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BB 2018, I
Löwisch 

Privilegierungen tarifgebundener Arbeitsverhältnisse?

Abbildung 1

Die in diesen Wochen gefeierten 100 Jahre Sozialpartnerschaft sind auch 100 Jahre Tarifvertragsrecht. Dem Stinnes-Legien-Abkommen vom 15.11.1918 ist am 23.12.1918 die vom Rat der Volksbeauftragten erlassene Tarifvertragsverordnung gefolgt. Sie maß den Tarifverträgen erstmals zwingende Wirkung bei und legte so den Grundstein für die tariflich geprägte Ordnung der Arbeitsbedingungen.

Die Tarifvertragsverordnung beschränkte die zwingende Wirkung auf die Mitglieder der vertragsschließenden Vereinigungen und den Arbeitgeber selbst. Die nicht organisierten Arbeitnehmer und Arbeitgeber blieben außen vor. Dass der Staat deren Einbeziehung gesetzlich anordnen oder wenigstens fördern müsse, kam weder den am Stinnes-Legien-Abkommen Beteiligten noch dem Rat der Volksbeauftragten in den Sinn. Der Reichsarbeitsminister erhielt lediglich das Recht, Tarifverträge für allgemein verbindlich zu erklären, sofern die dort geregelten Arbeitsbedingungen in deren Geltungsbereich ohnehin überwiegende Bedeutung erlangt hatten.

Der Ton, den Politik und Sozialpartner heute anschlagen, steht in Kontrast zu dieser Staatsferne. Maßnahmen zur “Stärkung der Tarifbindung” werden getroffen und gefordert. Gesetzt wurde zunächst auf die Verbannung von Minderheitstarifverträgen durch das Tarifeinheitsgesetz und die Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz. Der Erfolg ist ausgeblieben. Nunmehr sucht man das Heil in der Privilegierung tarifgebundener Arbeitsverhältnisse:

Den Anfang hat die Neuregelung der Arbeitnehmerüberlassung gemacht. Tarifgebundene Arbeitgeber können die dort vorgesehene Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten ausdehnen. Nicht tarifgebundenen ist das nur bis zu einer Höchstdauer von 24 Monaten gestattet und auch dann nur, wenn tariflich entsprechende Betriebs- oder Dienstvereinbarungen vorgesehen sind. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs 18/9232, 21) soll so “ein weiterer Anreiz zur Tarifbindung” gesetzt werden. Der nächste Schritt steht bei der Brückenteilzeit bevor: Nach dem neuen § 9a Abs. 6 TzBfG soll von dem gesetzlich vorgegebenen Zeitraum der Arbeitszeitverringerung lediglich durch Tarifvertrag abgewichen werden können.

Auf der Festveranstaltung “100 Jahre Sozialpartnerschaft” haben die Gewerkschaften weitere Privilegierungen gefordert. Ein “Bundestariftreuegesetz” soll dafür sorgen, dass auch nicht organisierte Unternehmen öffentliche Aufträge nur erhalten, wenn sie die einschlägigen Tarifentgelte, an die sie an sich nicht gebunden sind, bezahlen. Noch weiter geht der Vorsitzende von ver.di, Frank Bsirske. Gestützt auf ein Gutachten von Martin Franzen fordert er für Gewerkschaftsmitglieder einen steuerlichen Freibetrag in der Größenordnung des Drei- bis Vierfachen des durchschnittlichen Gewerkschaftsbeitrags.

Diese staatlichen Privilegierungen tarifgebundener Arbeitsverhältnisse sind verfassungsrechtlich nicht haltbar. Versagt der Gesetzgeber den nicht tarifgebundenen Arbeitgebern eine Regelung, die er den tarifgebundenen eigens erlaubt, liegt darin eine Diskriminierung, welche der negativen Koalitionsfreiheit nicht standhält. Art. 9 Abs. 3 GG schützt diese gleichermaßen wie die positive. Damit ist staatliche Neutralität in die eine wie in die andere Richtung geboten. Sie ist verletzt, wenn gesetzliche Regelungen, hier des Arbeitnehmerüberlassungsrechts und des Teilzeitrechts, zu dem Zweck eingesetzt werden, mehr Tarifbindung herbeizuführen. Auch besondere “Vergabemindestlöhne” lassen sich, wie das VG Düsseldorf (27.8.2015 – 6 K 2793/13) festgestellt hat, nach Einführung des allgemeinen Mindestlohns durch das MiLoG nicht mehr rechtfertigen. Und ein Steuerprivileg in Höhe des Drei- bis Vierfachen des Gewerkschaftsbeitrags ist nichts anderes als eine verkappte staatliche Subvention des Gewerkschaftsbeitritts. Sie ist mit der negativen Koalitionsfreiheit noch weniger vereinbar als ein Solidaritätsbeitrag der Nichtorganisierten für die Gewerkschaften.

Sozialpolitisch führen solche Privilegien auf die schiefe Bahn. Die Anziehungskraft von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden beruht auf dem ebenbürtigen freien Aushandeln der Arbeitsbedingungen. Schielen die Akteure in diesem Prozess auf vom Staat angebotene verbandspolitische Vorteile, rückt das Ringen um interessengerechte Ergebnisse an die zweite Stelle. Das merken auch die Mitglieder. Auch im Verhältnis zum Staat haben solche Privilegien eine Kehrseite. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten können sie Erwartungen auf Wohlverhalten wecken. “Orientierungsdaten für ein gleichzeitiges aufeinander abgestimmtes Verhalten” auch der Gewerkschaften und Unternehmensverbände (§ 3 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes 1967) werden dem Staat umso leichter fallen, je mehr er den Verbänden Mitgliedschaftshilfe geleistet hat.

Die Zukunft der Tarifautonomie liegt nicht in der Staatshilfe, sondern in der Überzeugungskraft und dem Einigungswillen der Sozialpartner. Das ist heute nicht anders als 1918.

Prof. Dr. Dr. h.c. Manfred Löwisch, Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und of Counsel der Rechtsanwaltskanzlei KraussLaw in Lahr (Schwarzwald)

 
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