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BB 2017, I
Wernicke 

Recht ist kein Investitionsobjekt – zu den Risiken der Musterfeststellungsklage

Abbildung 1

Im Namen von 46 Millionen Verbrauchern wird derzeit Mastercard vor einem britischen Gericht auf Schadensersatz in Höhe von 14 Mrd. Pfund verklagt. Finanziert wurde die Klage durch Gerchen Keller Capital LLC mit einem Einsatz von 43 Mio. Pfund. Dabei handelt es sich um einen Prozessfinanzierer, der in den “asset value” möglicher Verfahren investiert – und der gerade von der Burford Capital Ltd. aufgekauft wurde, seinerseits ein britischer Prozessfinanzierer, der die Gründung des Berliner Büros der auf Sammelklagen spezialisierten US-Kanzlei Hausfeld mit 30 Mio. Euro unterstützt (Pressemitteilung Hausfeld vom 2.12.2015). Hausfeld wiederum versucht, mit diesem Kapital vom Dieselskandal zu profitieren: Die Kanzlei handele im Namen der Verbraucher, der Umwelt und der Gesundheit und empfiehlt, sich über sie an Sammelklagen in den Niederlanden zu beteiligen mit dem Ziel, bindende Prozessvergleiche zu erreichen. “MyRights”, ein Inkassodienstleister, der mit Hausfeld kooperiert, verlangt 35 % der zukünftig erstrittenen Summe als Honorar.

Was wir hier erleben ist ein Paradigmenwechsel. Unter dem Banner eines vermeintlichen Verbraucherschutzes geht es vor allem um den Systemwettbewerb der Geschäftsmodelle: Mit dem für sich genommen richtigen Argument, dass nicht jeder Verbraucher selbst klagen kann, wird Öffentlichkeit hergestellt. Dabei sind Reputationsschäden für die Unternehmen Teil des Kalküls, denn Verfahren dauern zu lange. Es ist für die rechtspolitische Debatte unerheblich, ob sich im Einzelfall die Ansprüche am Ende als berechtigt oder unberechtigt erweisen.

Denn werden in Deutschland Klagen ermöglicht, die auf den bestmöglichen “return on investment” zielen, so gerät das Rechtssystem selbst in Misskredit. Recht ist kein Investitionsobjekt. Schäden müssen ersetzt werden, doch warum hohe “Profite”, vor allem auf dem Verhandlungsweg erreicht, anschließend in die Taschen von Anwälten oder Investoren fließen sollen, ist weder ökonomisch noch rechtlich belastbar zu begründen. Dass unter diesen Bedingungen das Bundesjustizministerium kürzlich eine Musterfeststellungsklage im Entwurf vorgestellt hat, ist daher nur politisch verständlich. Rechtlich bedarf es diesbezüglich weder einer Stärkung des auch insoweit soliden Justizstandortes Deutschland noch ist derzeit vorherzusagen, in welche Richtung die anstehende Evaluation der EU-Kommission ihrer Mitteilung von 2013 zu kollektiven Rechtsmitteln führen wird.

Gegen das vorgestellte Modell der Musterfeststellungsklage sprechen auch inhaltliche Gründe, so das bemerkenswerte neue Instrument eines verjährungsunterbrechenden Klicks im Internet in ein Klageregister. Fragwürdig ist zudem der Vorschlag, ein Feststellungsurteil für die beklagte Unternehmensseite nur dann für verbindlich zu erklären, wenn diese verliert. Obsiegt das Unternehmen, so können gleichwohl weitere Verfahren geführt werden.

Am heikelsten aber ist wohl die Frage der Klageberechtigung als Musterkläger, denn hier bedarf es einer Grundsatzentscheidung. Erlaubt man die Klagen von allen Privaten im Namen Dritter, so öffnet dies evidente Missbrauchsrisiken. Die gegenwärtig im Entwurf als Filter diskutierten möglichen Kläger sind ungeeignet: Industrie- und Handelskammern sind gesetzlich auf die Vertretung von Unternehmensinteressen verpflichtete Einrichtungen, und private Verbraucherschutzverbände, als so zuverlässig sie in Deutschland angesehen sein mögen, könnten sich unter gänzlich unklaren Bedingungen irgendwo in der EU zulassen und dann in Deutschland klagen; die gewünschte Zulassungskontrolle erscheint europarechtlich ausgeschlossen.

Will man also tatsächlich die Verbraucher in den Vordergrund stellen und deren “rationales Desinteresse” durch geeignete Maßnahmen kompensieren, so wäre daran zu denken, einen öffentlich-rechtlichen Ombudsmann als unabhängige Stelle einzurichten. Dieser könnte auch von Unternehmensseite als neutral wahrgenommen werden. Zugleich wäre ein Ombudsmann der richtige Weg, um geeignete Verfahren etwa im Bagatell- oder Masseschädenbereich zu identifizieren und Missbrauch durch öffentliche Prangerwirkung zu verhindern. Erst in diesem Kontext wäre es auch angemessen, die gerade von der Koalition in der Diskussion um die GWB-Novelle zurückgestellte Überlegung zu erörtern, dem Bundeskartellamt oder einer geeigneten Behörde in Bezug auf die digitale Wirtschaft Aufgaben der Durchsetzung des Verbraucherschutzes zu übertragen. Gute Beispiele gibt es einige in der EU; z. B. der auch im kollektiven Rechtsschutz erfahrene dänische Ombudsmann.

Auf diese Weise wäre im Ergebnis sowohl den rechtstreuen Unternehmen als auch den Verbrauchern geholfen. Lippenbekenntnisse, wonach niemand die Absicht habe, US-amerikanische Verhältnisse zu schaffen, wären nicht mehr erforderlich. Dass Sammelklagen gerade auch gegen Drittstaatsunternehmen in Großbritannien boomen, wundert nicht, sind doch die britischen Legal Services eine der wenigen Wachstumsbranchen. Aber auch dort werden richtigerweise – wie gegenwärtig mit dem “Fairness in Class Litigation Act” in den USA – Grenzen auf einem Weg gezogen, den Deutschland gar nicht erst gehen sollte: Die Klage von Hausfeld im Namen von 64 697 chinesischen Unternehmen wegen behaupteter Schäden aus dem Luftfrachtkartell fand nach hohen Kosten und langer Prozessdauer das einzig angemessene Ende: Sie wurde vom High Court als rechtsmissbräuchlich zurückgewiesen, weil die Unternehmen nicht einmal wussten, dass in ihrem Namen geklagt wurde.

Prof. Dr. Stephan Wernicke ist Chefjustitiar des Deutschen Industrie- und Handelskammertages DIHK e. V. und Honorarprofessor für Europarecht, Europäisches Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht an der Juristischen Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin.

 
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