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CNL 2020, 5
Niewiarra 

Checkliste oder Eigenverantwortung – die Kunst der Compliance-Entscheidung

Gesetze und Regelungen basieren meistens auf dem Gedanken, dass alles entweder richtig oder falsch ist. Wir versuchen damit, Sicherheit, Ordnung und Belastbarkeit in unseren Alltag und unser Miteinander zu bringen. Unser Zusammenleben in einer komplexen Welt erfordert Struktur und damit auch Regeln. Doch das Leben findet nicht auf dem Reißbrett statt. Es steckt voller Überraschungen, Unwägbarkeiten und leider auch Dilemmata. Die binäre Logik von richtig oder falsch greift da vielfach zu kurz. Das gilt leider auch in unserem Berufsalltag und ergibt sich dort vielfach im Zusammenhang mit Compliance-Entscheidungen.

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Eine entscheidende Frage für Compliance: Wo liegt meine eigene innere Messlatte?

Wir müssen ständig mit Unwägbarkeiten umgehen – sie sind Teil jeder Entscheidung. Nicht nur im Privatleben sondern auch in geschäftlichen Abläufen wiegen Fehler schwer. Sie zerstören Wert(e), Karrieren, im schlimmsten Fall Menschen. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, Risiken, Fehlerquellen zu analysieren und uns unseren Umgang damit bewusst zu machen, um die sinnvollste Wahl zu treffen.

Compliance-Entscheidungen werden meist rational auf der Grundlage von Fakten, Gesetzen, Unternehmensrichtlinien und Abläufen getroffen. Checklisten unterstützen die Filterung des Sachverhalts. Dieser wird dann häufig in ein System eingeordnet oder mithilfe eines Ampelpapiers gewichtet. Liegen alle relevanten Informationen vor, steht einer rationalen – und somit scheinbar „richtigen“ – Entscheidung nichts mehr im Wege. Doch ist das gerade jetzt, wo viele von uns im Homeoffice mit einem höheren Maß an Eigenverantwortlichkeit entscheiden müssen, auch wirklich der optimale, effizienteste Weg, um Compliance im und für das Unternehmen zu gewährleisten und Mitarbeiter wie auch Management gleichermaßen zu schützen?

Ich meine, dass es so einfach nicht (immer) ist: denn Faktenorientierung und die Befolgung von Regelwerken sind nicht die alleinigen Driver der Entscheidungsfindung. Vielmehr sollten wir unser Augenmerk auf den Driverseat lenken – und den, der dort sitzt: den Menschen.

Welche Einflüsse Faktoren wie etwa Müdigkeit oder Hunger auf unsere Entscheidungen haben, zeigt anschaulich Daniel Kahnemanns Studie über israelische Richter, die mit Begnadigungsverfahren befasst waren. Untersucht wurde, ob es in den Entscheidungen eine Korrelation zwischen den Urteilen und den jeweiligen (Essens-)Pausen gab. Wie Kahnemann in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ ausführt, dauerte die Urteilsfindung im Schnitt sechs Minuten. Die Standardentscheidung bestand in der Ablehnung des Entlassungsgesuchs. Je näher aber die Mittagspause rückte und je hungriger und erschöpfter die Richter waren, desto weniger Haftentlassungen sprachen sie aus. Sie wählten dann eher die scheinbar einfachere, schnellere Lösung, derer es geringeren kognitiven Aufwands bedurfte. Denken verbraucht Energie – erschöpften, hungrigen Richtern fielen rationale Entscheidungen offensichtlich schwerer und die Tendenz zur leichten, klar vorgegebenen Standardentscheidung stieg.

Dies birgt einiges Gefahrenpotenzial in sich. Die trügerische Sicherheit der Welt der Regelungen kann dazu verleiten, sich Vorgaben schlicht unterzuordnen, es bei der Checkliste zu belassen, nicht selbst darüber nachzudenken, was richtig und falsch ist und kein eigenes Gefühl dafür zu entwickeln. Wichtig ist aber gerade das Bewusstsein, dass es stets eine Wahl gibt. Ein enges Regelkorsett kann in Drucksituationen (Stichwort: Widerspruch zwischen Compliance und Geschäft, das in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten offensichtlicher wird denn je) gepaart mit Erschöpfung dazu führen, dass Wahlmöglichkeiten nicht mehr erfasst werden. Wenn Menschen ermüden, neigen sie dazu, Komplexität zu reduzieren. Entscheidungen werden vereinfacht oder vermieden. Ein bestehender Zustand wird eher akzeptiert und belassen.

Was bedeutet das für uns und unsere (Compliance-) Entscheidungen? Die Antwort liegt auf der Hand. Natürlich sind wir, ganz unabhängig davon, ob Mitarbeiter, Manager oder Aufsichtsorgan, in unserer Arbeit analogen Situationen ausgesetzt wie die Richter bei der Urteilsfindung. Schon vermeintliche Belanglosigkeiten wie Hunger oder Ermüdung können bewirken, dass wir den Kräfte sparenderen Weg wählen, Komplexität reduzieren, uns auf das Nahe liegende beschränken und damit der Standardlösung oder der Erhaltung des Status Quo den Vorzug geben. Und dabei ist der mögliche emotionale Stress, den eine Entscheidungssituation auslösen kann, noch nicht einmal berücksichtigt.

Compliance ist ein zutiefst menschliches Thema. Wir Menschen sind es, die die Regeln aufstellen, befolgen oder missachten, aber ebenso aus ihnen lernen können. Deshalb muss Compliance mit Leben gefüllt werden. Wichtig ist, die Menschen abzuholen, ihre Bedürfnisse zu verstehen und in die Betrachtung mit aufzunehmen sowie ihren Mut zu eigenverantwortlichen Entscheidungen zu stärken. Deshalb gehört für mich zur Begriffsdefinition der Compliance unser höchstpersönliches Verständnis von Compliance dazu. Wo liegt meine eigene innere Messlatte? Ab wann beginnt meine ganz persönliche „Incompliance“? Diese Frage steht am Anfang. Und mit der vielleicht nicht immer bequemen Antwort sollten wir uns intensiv auseinandersetzen, da sie unser ganz persönlicher Schlüssel zur Compliance über unsere Werteorientierung ist.

Dr. Kathrin J. Niewiarra

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Dr. Kathrin J. Niewiarra ist Rechtsanwältin, Attorney-at-Law (NY) und Ombudsfrau. Unter bleu&orange® berät sie mit einem ganzheitlichen Corporate-Compliance-Ansatz. Sie ist Gründerin und Geschäftsführerin des Compliance Channel, eines Web-TV-Senders zu den Themen Wirtschaftsethik und Compliance.

 
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