Compliance-Kultur wirksam prüfen, messen und bewerten
In vielen deutschen Unternehmen ist Compliance noch „das fünfte Rad am Wagen“. Dabei sei eine gut verankerte Compliance-Kultur Dreh- und Angelpunkt zur Vermeidung von Organhaftung, sagte Jörg Bielefeld zu Beginn des Roundtables Compliance-Kultur am 22. Oktober 2019. Zusammen mit der Change-Managerin Stefanie Neubeck, dem Psychologen und Restrukturierungsexperten Bernhard Kressin sowie dem Betrugsermittler und Compliance-Spezialisten Peter Zawilla stellte Bielefeld in den Räumlichkeiten der BEITEN BURKHARDT Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Frankfurt a. M. einen innovativen, interdisziplinären und praxisorientierten Ansatz vor zur Vermeidung von (Organ-)Haftung und Compliance-Risiken durch eine wirksame Risiko- und Compliance-Kultur.
Jörg Bielefeld, Peter Zawilla, Bernhard Kressin und Stefanie Neubeck (v.l.n.r.) stellten den neuen Compliance-Kultur-Ansatz beim Roundtable vor.
Die Ermittlungen im Abgasbereich und der Umgang damit sind für Bielefeld eine wahre Fundgrube an Negativbeispielen, wie deutsche Unternehmen mit Compliance umgehen: „Ein Aufsichtsratsmitglied wird gefragt, ob er sich jemals mit Compliance befasst habe und antwortet sinngemäß: Nein, ich bin Techniker, sowas macht bei uns die Rechtsabteilung“, zitiert er Investigativjournalisten. „Diese Einstellung kann einem Unternehmen sehr teuer zu stehen kommen“, warnt Bielefeld. Die Folgen seien ein enormer Reputationsverlust sowie Sanktionen, die aus dem Ordnungswidrigkeitenrecht resultieren und die mit dem Entwurf des Verbandssanktionengesetzes noch steigen. „Lesen Sie diesen Entwurf mal an Halloween, da passt er hin“, scherzte Bielefeld. Dass sich Aufsichtsräte und Vorstände in Zukunft der Strafe noch entziehen könnten, sei unvorstellbar. Doch diesem Risiko müsse ein Unternehmen nicht schutzlos ausgeliefert sein: „Compliance- und Risikokultur sind nicht nur beeinflussbar, sondern auch prüfbar und daher messbar. Wir können daher jetzt schon mit der Arbeit beginnen, die uns gegen Sanktionen aus dem Gesetzesentwurf schützt.“
Kressin lenkte den Blick über die rein juristische Betrachtung hin zu den Kunden der deutschen Unternehmen: „Der Umgang mit Werten ist entscheidend dafür, wie attraktiv Ihr Unternehmen für Ihre Kunden ist. Die kaufkraftstärkste Generation Z ist werteorientiert. Sie setzt sich auseinander mit Fragen des Klimas und der Ethik. Nur wer das Vertrauen dieser Generation hat, wird auch Geschäft machen.“ Voraussetzung sei eine wirksame Risiko- und Compliance-Kultur, die wiederum Bestandteil der Organisationskultur sei.
Die Wirksamkeitsanalyse und -bewertung dieser drei Kulturen erläuterte Zawilla als ersten Schritt des ganzheitlichen Ansatzes, den die vier Compliance-Experten vorstellten: „Es geht zunächst um eine Bestandsaufnahme und Reifegradbewertung.“ Dem folge im zweiten Schritt eine maßgeschneiderte Zielfindung, die sich ausgehend vom bestehenden Delta auf die notwendigen Maßnahmen fokussieren müsse. Als dritter Schritt werden Umsetzungsprojekte definiert – inklusive Roll-Out in Kommunikation und weiteren Maßnahmen wie Events und Schulungen.
Neubeck beschrieb das Reifegradmodell des Ansatzes, das fünf Kulturdimensionen in den Blick nimmt:
1. Das Geschäftsmodell, das auch gleichzeitig das Bild skizziere, das die Geschäftsführung von der Zukunft des Unternehmens habe.
2. Die Strukturen des Unternehmens, die aufzeigen, ob die Rollen klar verteilt und die Hierarchieebenen geklärt sind.
3. Das Leadership, das Auskunft gibt über den „Tone from the Top“ und die Fähigkeit, Konsequenzen durchzusetzen, aber auch zu entscheiden, zu begeistern und zu motivieren.
4. Das Selbstverständnis, die Haltung und Ethik der Organisation – hierzu gehöre außer ethisch-moralischen Werten auch eine Fehlerkultur.
5. Die Transformationsfähigkeit und damit die Frage nach der Fähigkeit, eigenes Verhalten zu reflektieren, mit anderen in Verbindung zu bringen und aus eigener Kraft zu verändern.
Neubeck wies darauf hin, dass sich die Ansprüche, die viele Unternehmen in diversen Dokumenten schriftlich fixieren, häufig stark davon unterscheiden, was tatsächlich gelebt und gefühlt werde. „Damit wird aber in den nächsten Jahren kein CEO mehr durchkommen“, warnte sie und gab gleichzeitig Hoffnung: „Ein Mindchange einer starken Führungspersönlichkeit kann dazu führen, dass alle mitziehen und das Ruder schnell rumreißen.“
Die vier Compliance-Experten beschränken sich dementsprechend nicht darauf, unternehmensinterne Regelwerke und Compliance-Vorschriften zu durchforsten. Zawilla beschrieb die Messung nach dem innovativen Ansatz, demnach
– erfolge eine quantitative Ersteinschätzung über eine Fragebogen-Erhebung (Mitarbeiterbefragung),
– werden qualitative systemische Interviews durchgeführt und
– wird das vorhandene schriftlich fixierte Regelwerk erhoben und einer grundsätzlichen Einschätzung unterzogen.
„Fragen Sie einmal Ihren Vorstand, wie er konkret die Compliance-Kultur vorlebt. Die Antwort wird einiges aussagen“, gab Zawilla als Beispiel. Aufschlussreich könne auch die Frage an die Mitarbeiter sein, ob das Unternehmen eine Whistleblowing-Hotline hat und inwieweit diese unternehmensintern auch bekannt gemacht worden ist. Tatsächlich gebe es diese Einrichtung in vielen Unternehmen, aber es wird – vielleicht auch mit Absicht – nicht immer offensiv kommuniziert. Bielefeld ergänzte: „Auch die Behörden schlafen an dieser Stelle nicht. Die werten ebenfalls die Compliance-Papiere aus und befragen im Anschluss gezielt die Mitarbeiter.“
Wichtig sei andererseits auch, dass keine „Überregulierung“ im Unternehmen stattfinde. Auch diesen Aspekt bewerte das Reifegradmodell des neuen Compliance-Kultur-Ansatzes, denn Überregulierung lasse das Risiko von Compliance-Verstößen wieder steigen. Wenn einzelne Bewertungsdimensionen des Reifegradmodells über dem besten Bewertungsergebnis liegen, dann sei das kein Anlass zur Freude, sondern die Aufforderung, gegenzusteuern. „Wenn Sie einen Antrag ausfüllen müssen, um eine Tasse Kaffee von Ihrem Geschäftspartner anzunehmen, dann macht Compliance nicht nur keinen Spaß, sondern dann ist sie auch nicht mehr erklärbar“, so Bielefeld.
Christina Kahlen-Pappas