Compliance in Italien: Geprägt von Covid-19
Das Jahr 2020 war in Italien von überbordender Gesetzgebung in einem Bereich gekennzeichnet: dem Umgang mit Covid-19. Über diese Zeit, in der mehr als 400 Dekrete allein auf Regionalebene erlassen worden sind, könnte ein mehrbändiges Werk entstehen. Wir wollen uns hier auf einen aus arbeitsrechtlicher und Compliance-Sicht sehr besonderen Aspekt begrenzen: Der Umgang mit Kurzarbeitergeld und betriebsbedingter Kündigung.
Nichts geht mehr in Venedig: Selbst die sonst zu jeder Jahreszeit überlaufene Lagunenstadt steht still.
Zunächst kurz zur Chronologieß der Ereignisse: Am 21. Februar 2020 erließ der Gesundheitsminister eine gemeinsam mit dem Präsidium der Region Lombardei unterzeichnete Verordnung, mit der alle öffentlichen Veranstaltungen, nicht gemeinnützige kommerzielle Aktivitäten, Arbeit sowie Freizeit- und Sportaktivitäten ausgesetzt wurden und die Schließung von Schulen in zehn Gemeinden verfügt wurde. Dies war die so genannte „Rote Zone“.
In der Nacht vom 7. auf den 8. März 2020 erließ der Premierminister ein neues Dekret, das die so genannten „roten Zonen“, die zu Beginn der Pandemie eingerichtet wurden, erweiterte sowie jede Bewegung in und aus den Gebieten sowie innerhalb der Gebiete selbst verbot. Der Einschlag in die Wirtschaft war verheerend.
Mit dem Erlass des Premierministers vom 16. Mai 2020 (Decreto Maggio) kündigte der Präsident des Ministerrats Giuseppe Conte dem Land den Beginn der Phase 2 vom 18. Mai 2020 bis 14. Juni 2020 an. Viele Einzelhandelsgeschäfte, Bars, Restaurants etc. konnten in dieser Phase wiedereröffnen, und einige Beschränkungen wurden aufgehoben. Dem folgten noch mehrere Dekrete, die u.a. die Gewährung von Kurzarbeitergeld regelten.
Wir nähern uns dem eigentlichen Thema. Die kurze (und unvollständige) Zusammenfassung der Ereignisse sollte noch um eine statistische Zahl ergänzt werden, die den Niedergang der historischen Gewerkschaften aufzeigt. Nach einer Untersuchung des „Istituto Demoscopika“ ist von 2015 bis 2017 die Mitgliedschaft bei den drei historischen Gewerkschaften CGIL (kommunistisch), CISL (christdemokratisch) und UIL (laizistisch) um 447.000 Mitglieder geschrumpft, darunter 293.000 Mitglieder aus den südlichen Regionen. Den größten Rückgang verzeichnet der Allgemeine Italienische Gewerkschaftsbund (CGIL – kommunistisch) mit einem Rückgang um 285.000 Mitglieder, gefolgt vom Italienischen Gewerkschaftsbund (CISL – christdemokratisch) mit weniger als 188.000 Mitgliedern. Für die italienische Gewerkschaft der Arbeit dagegen (UIL) besteht ein gegenläufiger Trend: rund 26.000 mehr Mitglieder im beobachteten Zeitraum.
Während also die gesamte Unternehmerschaft am Boden lag und teilweise mit 100 Prozent Umsatzausfällen zu kämpfen hatte, in einem Land um Zwischenfinanzierungen rang, in dem vorher schon Kredite praktisch nicht zu bekommen waren, familiengeführte Unternehmen (die den Großteil ausmachen in Italien) Reserven und Assets aufzehrten oder liquide machten – während dieser Zeit also hat die Regierung den Bezug von Kurzarbeitergeld von einer Einigung mit den Gewerkschaften abhängig gemacht. Nur zum Vergleich: Das wäre so, als ob in Deutschland der Bezug von Kurzarbeitergeld in betriebsratslosen Betrieben davon abhängig gemacht würde, dass sich die Mustermann-GmbH, die gerade das gesamte Geschäft verloren hat, mit der IG-Metall über einen Sozialplan einigt. Da wäre man schon in Normalzeiten als Unternehmen auf verlorenem Posten. Dann teilte die Regierung den Bezug auch noch in kurze Zeiträume auf: zwischen vier und neun Wochen Bezugszeit. Wir sind, Stand Oktober 2020, bei dem inzwischen fünften Bezugszeitrahmen für Kurzarbeitergeld – und für jeden Antrag braucht es eine gewerkschaftliche Einigung, und zur Vorbereitung der Einigung müssen sämtliche Daten der Arbeitnehmer an die Gewerkschaften übermittelt werden. Schließlich wurden kurzfristig die befristeten Verträge zwangsverlängert (Sie lesen richtig – die Maßnahme wurde aber kurz darauf wieder aufgehoben) und für all diejenigen, die meinen, dass man dies nicht noch toppen könnte: Bis zum 31.12.2020 wurden die betriebsbedingten Kündigungen per Dekret verboten.
Unnötig zu erwähnen, dass die Wiedereröffnungsprotokolle (also die Hygiene-Compliance in Phase 2) natürlich auch mit den Gewerkschaften ausgehandelt werden mussten, ansonsten sehen sich die Unternehmen einem Haftungsrisiko ausgesetzt. Nun kennen wir ähnliche Mechanismen auch in Deutschland. Man denke nur an die Einführung des § 1 Abs. 2a BetrAVG, der im Gesamtkontext des BetrAVG betrachtet folgendes statuiert: Arbeitgeber haften immer subsidiär, außer sie wenden einen Tarifvertrag an. Auch hier ist die Neutralitätspflicht verletzt, aber im Verhältnis zu der Lage in Italien gesehen sind das, sarkastisch gesprochen, fast vernachlässigbare verfassungsrechtliche Peanuts. Wenn dagegen italienischen Unternehmen in Krisenzeiten per Dekret verboten wird, betriebsbedingt zu kündigen, gleichzeitig aber der Bezug von Kurzarbeitergeld von einer (wiederholten) Einigung mit den Gewerkschaften auf Sozialplan-Niveau abhängig gemacht wird, dann lässt das regierungsseitig auf ein derart grundsätzliches Fehlverständnis von Freiheitsrechten schließen, dass von einem Dammbruch ausgegangen werden kann. Das wird sich nie mehr rückgängig machen lassen.
Dass in einer Zeit, in der die Unternehmen so geschwächt sind wie nie zuvor, den Gewerkschaften eine derart starke Verhandlungsposition nach Maß zurechtgeschnitten wird, ist nicht nur historisch einmalig, sondern verfassungsrechtlich ein Skandal.
Mario Prudentino
Mario Prudentino, RA, Leiter Italian Desk bei Prudentino & Rhein PartGmbB – Studio Legale, Hamburg, Monza, Mailand. (www.prpsl.de). Zudem ist er Geschäftsführer der ItalienZentrum Wirtschaft + Beratung GmbH (www.italien-zentrum.de).