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EWS 2019, I
Lenz 

Weniger Rechtsschutz -- weniger Rechtsstaat?

Abbildung 1

Die Europäische Kommission hat ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen eingeleitet und eine entprechende Warnung an Rumänien gerichtet. Worum geht es?

Zunächst geht es darum, ob diese Mitgliedstaaten den in Art. 2 EUV vereinbarten Verfassungsgrundsatz der Rechtsstaatlichkeit einhalten. Dazu gehört auch der Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte. Dessen Einhaltung ist Voraussetzung für die Aufnahme in die Europäische Union. Besteht die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung dieses Wertes durch einen Mitgliedstaat, so kann dies der Europäische Rat nach Art. 7 EUV einstimmig feststellen. Das Verfahren dient also der Prüfung der Frage, ob die Voraussetzungen der Mitgliedschaft gefährdet sind. Das ganze Verfahren spielt sich auf der Ebene der Mitgliedstaaten und der Organe der EU statt und betrifft diese in erster Linie.

Dies gilt nicht für das Merkmal “Nichtdiskriminierung”. Es gilt natürlich auch für die genannte Ebene, aber es gilt auch für die Beziehung von Unionsbürgern und Trägern der vier Grundfreiheiten zur EU. Der Präsident des EuGH, Koen Lenaerts, hat auf einer Veranstaltung auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung am 8. 11. 2018, 80 Jahre nach der “Reichsprogromnacht”, in Berlin einige Beispiele genannt: die Fälle Nikolova (Rs. C-83/14), Egenberger (Rs. C-414/16) und IR/JQ (Rs. C-68/17) (s. dazu Lenz, https://europa.ruw.de/ews-standpunkte/standpunkte/Weniger-Rechtsschutz-weniger-Rechtsstaat-38239).

In allen diesen Fällen ging das Verfahren vor dem EuGH nicht auf die Initiave europäischer Stellen, sondern auf Beschluss eines Gerichts eines Mitgliedstaates zurück. Es erweitert dessen Befugnisse. Das Verfahren enthält auch eine Befugnis einer Institution der EU – des EuGH – und fördert die Verbreitung von Kenntnissen des Unionsrechts.

Der bisherige Vizepräsident des BVerfG, Ferdinand Kirchhof, kritisiert in einem Interview mit Jahn in NJW-aktuell (H. 16 vom 11. 4. 2019, S. 12 f.) die Befugnis “unterinstanzlicher” Gerichte zur Anfrage beim EuGH und “würde auch eine Änderung des Vorlageverfahrens, beispielweise einen Einbezug der nationalen Verfassungsgerichte, in Erwägung ziehen.” Das ist dahin verstanden worden, “deutsche Gerichte (sollten) den EuGH nur noch mit Zustimmung des BVerfG anrufen können (Jahn, rsw.beck.de/aktuell/meldung).

Das würde eine Einschränkung der Befugnis deutscher Gerichte bedeuten, direkt in Kontakt mit dem EuGH zu treten, sowie der Befugnis von Rechtsuchenden vor deutschen Gerichten und ihrer Anwälte, ihre Sache selbst vor dem EuGH zu vertreten. Es würde die Möglichkeiten des EuGH, mit den Gerichten der Mitgliedstaaten in Kontakt zu kommen, einschränken und so die Distanz zwischen Bürgern und Organen der EU vermindern – eine Distanz, die Kirchhof behauptet und beklagt. Die Vorlagefreudigkeit deutscher Gerichte spricht indes gegen die von Kirchhof behauptete Distanz. 2018 gab es 78 Vorlagen deutscher Gerichte.

Das Fazit ist: Die Befugnisse des BVerfG würden wachsen, die aller anderen Beteiligten aber vermindert. Das BVerfG sollte die Befugnisse anderer schätzen und nicht die eigenen auf Kosten anderer ausweiten.

Aber vielleicht ist ja alles ein Mißverständnis. In einem Interview mit LTO (Podolski, 11. 4. 2019) hat Kirchhof gesagt, es sei ausreichend, wenn nicht mehr jeder Richter, sondern nur jeweils die obersten Gerichte der Mitgliedstaaten den EuGH anrufen könnten. Sollte es um die Nichtanwendung von nationalen Rechtsvorschriften gehen, die von einem Parlament beschlossen worden sind, sollten statt der Obersten Gerichte die Vefassungsgerichte eingeschaltet werden. Das aktuelle System “begünstige die Umgehung der nachfolgenden Instanzen und tendiere zur Zersplitterung der Rechtsprechung”. Dazu ist zu bemerken, dass seit 1. 1. 2018 das Justizielle Netzwerk (JNEU) der Europäischen Union besteht. Die in allen Sprachen der Union verfügbare Plattform wurde bereitgestellt, um die Arbeiten der europäischen und nationalen Richter im Rahmen ihrer Aufgaben zu bündeln (siehe Jahresüberblick des EuGH, 2018, S. 58).

Dieser Vorschlag würde den Vorwurf des Strebens nach mehr Macht ein wenig entkräften, ändert aber nichts an der Zentralisierung der Vorlageentscheidungen, der Einschränkunng der Handlungsmöglichkeiten der Rechtsuchenden und dem Kompetenzverlust der Instanzgerichte, die bisher auch wichtige Grundsatzfragen dem EuGH vorgelegt haben (z. B. Costa/ENEL 6/64 auf Vorlage des Friedensgerichts Mailand). Außerdem verteuert die notwendige Erschöpfung des Rechtswegs das Verfahren. Manchmal endet der Rechtsweg auch vor Erreichung der Obersten Bundesgerichte. Auch diese Modifizierung ändert also nichts daran, dass die Befugnisse der Instanzgerichte (und die Möglichkeiten der dort tätigen Rechtsanwälte) geschmälert und die Möglichkeit des EuGH, sich mit den Problemen der Instanzgerichte zu befassen, abgeschafft würden. Außerdem würde eine solche Änderung dem gerade von Deutschland immer wieder betonten Grundsatz widersprechen, dass Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen werden sollen.

Die Bürger sind Akteure des Integrationsprojekts. Die nationalen Gerichte sind das Unionsrecht anwendende Gerichte.

Die Beschränkung ihrer Handlungsmöglichkeiten wäre eine wesentliche Änderung des Rechtsschutzsystems des AEUV. Mit Recht wird in der LTO darauf hingewiesen, dass die genannten Vorschläge eine Änderung des Lissabon-Vertrages erforderten. Dazu wird es hoffentlich nicht kommen.

Prof. Dr. Carl Otto Lenz, Bensheim

 
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