Kommunikation bei Kommunikationsausschluss des Betroffenen - "spickmich.de"
Das BVerfG hat mit Beschluss vom 16. 8. 2010 - I BvR 1750/09 die gegen die Entscheidung des BGH, K&R 2009, 565 - "spickmich.de" gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Die Bewertung von Lehrern in einem für Schüler eingerichteten Internetportal anhand von Kriterien wie "guter Unterricht", "fachliche Kompetenz", "cool und witzig" etc. ist daher auch unter ausschließlicher Anwendung grundrechtlicher Maßstäbe zulässig.
Von Gerichten können allerdings nur solche Rechtsfragen entschieden werden, die sich aus den gestellten Anträgen und den hierzu vorgetragenen Sachverhalten ergeben. Ausgehend hiervon sind nicht alle Rechtsfragen zu anonymen Meinungsäußerungen entschieden.
Anonyme Meinungsäußerungen werfen dann neue, noch nicht entschiedene Rechtsfragen auf, wenn die Anonymität nicht erst die freie Meinungsäußerung ermöglicht, sondern als Angriffsmittel aus unnötiger Deckung, als Deckmantel der Feigheit dient und zusätzlich die freie Gegenäußerung verhindert.
Die Meinungsfreiheit, die der Äußernde nur sich selbst, nicht aber dem Meinungsadressaten zugesteht, ist nicht zugleich die Freiheit des anderen, sie benötigt zur Balanceherstellung ein Gegengewicht in Form der Aufwertung der Interessen des Meinungsadressaten.
Der Umfang der Ausstattung der Interessenabwägung mit neuen Balancegewichten hängt von zusätzlichen objektiven Umständen ab. Ein derartiger objektiver Umstand kann das öffentliche Interesse an der Antwort auf eine die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage sein; denn es ist zu eng, mit dem öffentlichen Interesse nur die erste Stellungnahme zu legitimieren. Ein weiterer Umstand kann das Interesse des Meinungsadressaten sein, in seiner sozialen Geltung durch die Äußerung nicht - evtl. weiterhin - beeinträchtigt zu werden. Auf Seiten des Meinungsadressaten muss jeweils die Möglichkeit einer Widerlegung gegeben sein.
Ist z. B. im ersten Fall die Einordnung der anonymen Äußerung in den politischen Kontext des Äußernden gerade die Voraussetzung für eine auseinandersetzende Antwort durch den Meinungsadressaten, hat die anonyme Behauptung nicht genug Gewicht, um als einseitiger Angriff bestehen bleiben zu können. Denn Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG legitimiert nicht den Deckungsangriff, wohl aber den offenen Angriff. Im zweiten Fall - Beeinträchtigung der sozialen Geltung - fehlt ebenfalls das Übergewicht zum bestehen bleiben Können der anonymen Äußerung. Denn Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG legitimiert nicht die anonyme Beeinträchtigung der sozialen Geltung, wohl aber deren Beeinträchtigung als - evtl. nur mögliche - Folge des Meinungsaustausches. Hinzutreten muss - wie erwähnt - die Widerlegungsmöglichkeit durch den Meinungsadressaten.
Auf den Ausgangsfall "spickmich.de" gewendet bedeutet dies: Lag ein Machtgefälle vor, weil individualisierbare Schüler Nachteile vermittels ihrer Bewertungen befürchten hätten müssen, war jeder Angriff gegen das Meinungsportal von vorneherein chancenlos. Fehlte ein Machtgefälle, war der Gegenangriff der Lehrerin nur dann erfolgsbehaftet, wenn an der Antwort zu den Bewertungen ein öffentliches Interesse bestand, oder wenn diese Antwort zur Wiederherstellung der sozialen Geltung der Lehrerin notwendig war. Dass auch hiervon angesichts der genannten Kriterien ("guter Unterricht" etc.) kaum auszugehen war, bestätigen die Ergebnisse der Gerichte zu "spickmich.de", dürfte aber nichts an der Richtigkeit der hier getätigten Ausgangsüberlegung ändern, wonach Meinungsfreiheit nicht als solche ein Wert ist, sondern als Bestandteil von Kommunikation, vorausgesetzt, auf die Antwort kommt es aufgrund der genannten objektiven Umstände an.
Auch wenn der den Entscheidungen zu "spickmich.de" zugrundezulegende Sachverhalt die genannten objektiven Umstände nicht aufwies und eben daher kein Vorzeigefall zur Bewertung anonymer Äußerungen vorlag, gilt Widerspruch anzumelden zu folgenden Erwägungen des BGH, K&R 2009, 565, Rn. 38: "Die anonyme Nutzung ist dem Internet immanent (m. w. N.). Eine Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit auf Äußerungen, die einem bestimmten Individuum zugeordnet werden können, ist mit Art. 5 Abs. 1, S. 1 GG nicht vereinbar". Denn das Einstellen von Informationen - hier maßgeblich - ins Internet erfolgt nicht immanent anonym. Diensteanbieter haben sogar die Pflicht zur Identifizierbarkeit, § 5 TMG. Des Weiteren geht es nicht um eine pauschale Beschränkung auf identifizierbare Äußerungen, sondern um eine gerechte Interessenabwägung. Es ist Zeit für neue Klageanträge aufgrund neuer Sachverhalte.