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K&R 2010, 1
de Maizière, Thomas 

Lernen zu vergessen - Anmerkungen zum digitalen Verfallsdatum und zum digitalen Radiergummi

Der Psychologe Hermann Ebbinghaus musste 1885 in einem Selbstversuch zum menschlichen Erinnerungsvermögen feststellen, dass er neu Erlerntes bereits nach 20 Minuten nur noch zu 60 Prozent abrufen konnte. Langfristig sank seine Erfolgsquote gar auf 15 Prozent. Das Internet ist mit seinen unbegrenzten Speicherkapazitäten dem Menschen hier weit überlegen. Umfangreiche Informations- und Wissensangebote speichert es ebenso mühelos und vor allem auch dauerhaft wie Partyfotos oder verbale Entgleisungen. Gibt es also im digitalen Zeitalter weder das Ärgernis noch die Gnade des Vergessens?

In meiner Grundsatzrede zu den Perspektiven deutscher Netzpolitik* habe ich betont, wie wichtig es wäre, dem Internet in bestimmten Bereichen das Vergessen beizubringen. Dieser Vorschlag wurde teils begrüßt, teils als Wunschdenken abgetan. Wunschdenken ist er aber nicht. Es gibt heute schon Ansätze für ein digitales Vergessen: Erst vor kurzem hat die New York Times über eine Anwendung namens TigerText berichtet, die es dem Absender einer SMS ermöglicht, selbst den Zeitpunkt festzulegen, zu dem seine SMS vom Handy des Empfängers und von den zur Übermittlung genutzten Servern entfernt wird. Ein Forscherteam der Universität des Saarlandes arbeitet gegenwärtig an einem digitalen Verfallsdatum, mit dessen Hilfe auch Laien darüber bestimmen könnten, wie lange ihre im Netz veröffentlichten Texte und Bilder online bleiben sollen. Wissenschaftler in den USA gehen davon aus, dass soziale Netzwerke wie Facebook ihren Nutzern die Möglichkeit zu einer nur vorübergehenden Einstellung von Daten schon heute anbieten könnten, wenn sie wollten.

Bei der rechtlichen Bewertung des Internets dürfen diese technischen Aspekte nicht vernachlässigt werden. Nur wer die Technik versteht, kann beurteilen, ob begleitende Vorschriften erforderlich, sinnvoll oder vielleicht sogar hinderlich sind. Zu weit ginge es allerdings, wenn wir netzpolitische Überlegungen ausschließlich technikgetrieben anstellen würden oder wir Hinweise auf technische Schwierigkeiten gar als Alibi dafür nehmen, nichts zu tun. Eine rechtliche Absicherung des digitalen Verfallsdatums erscheint mir durchaus prüfenswert: Denkbar wäre es, soziale Netzwerke gesetzlich zu verpflichten, ihre Nutzer beim Eingeben neuer Daten nach deren "Haltbarkeitsdatum" zu fragen. Eine solche Verpflichtung würde nicht nur zu mehr Selbstbestimmung im Netz führen, sie würde auch sensibilisieren: Der Befragte müsste sich aktiv damit auseinandersetzen, welche seiner Informationen wie lange im Netz abrufbar sein sollen. Ähnlich wie das Verfallsdatum zielt auch die Idee des digitalen Radiergummis darauf ab, dem Internet das Vergessen beizubringen. Während aber beim digitalen Verfallsdatum der Löschungszeitpunkt von Beginn an feststeht, geht es beim digitalen Radiergummi darum, einen erst später gefassten Entschluss zur Löschung in die Tat umzusetzen. Dies führt praktisch wie auch rechtlich zu anderen Fragestellungen.

Ansprüche auf Löschung oder Sperrung von Internetinhalten richten sich aus Praktikabilitätsgründen meist gegen den als Störer haftenden Provider. Sie sind heute schon häufig Gegenstand von Rechtsstreitigkeiten. Das macht deutlich, was auch an anderer Stelle gilt: Wir müssen unsere Rechtsordnung trotz der Neuerungen, die das Internet mit sich bringt, nicht komplett neu erfinden. Mit den Unterlassungsansprüchen des Urheber- und Markenrechts, des Datenschutzrechts und des § 1004 BGB - um nur die relevantesten Beispiele zu nennen - bietet das geltende Recht zahlreiche Grundlagen für einen Anspruch auf digitales Radieren. Bisweilen macht sich allerdings bemerkbar, dass diese Vorschriften aus einer Zeit stammen, zu der es das Internet noch nicht gab. Der Rechtsprechung kommt dann die schwierige Aufgabe zu, die Generalklauseln zu konkretisieren und dabei den Besonderheiten des Internets Rechnung zu tragen. Für den juristischen Laien ist dies alles ziemlich unübersichtlich.

Der Gesetzgeber wird bei seinen Überlegungen, ob und inwieweit neue Regelungen zur rechtlichen Umsetzbarkeit des digitalen Vergessens sinnvoll sind, den Aspekt der Rechtsklarheit zu berücksichtigen haben. Vor allem aber wird genau zu prüfen sein, bei welchen Fragen das gegenwärtige Recht bereits heute zufriedenstellende Antworten bietet und an welchen Stellen nicht. Beim rechtlichen Umgang mit dem Internet tut der Gesetzgeber grundsätzlich gut daran, sich in Zurückhaltung zu üben. Die Gerichte können auf der Basis einer entwicklungsoffenen - insbesondere technikneutralen - Rechtsordnung schneller und flexibler auf die sich immerzu neu stellenden Fragen des Internets reagieren. Der Gesetzgeber darf die Gerichte aber auch nicht im Stich lassen: Spätestens dort, wo de lege lata die Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung erreicht ist, beginnt der Auftrag des Gesetzgebers, de lege ferenda tätig zu werden.

Der Mensch muss sich damit abfinden, dass er sich nicht alles merken kann. Das Internet muss lernen, dass man sich nicht alles merken darf.

Bundesminister Dr. Thomas de Maizière, MdB, Berlin
*

"Grundlagen für eine gemeinsame Netzpolitik der Zukunft", gehalten am 22. 6. 2010 in Berlin, abrufbar unter http://www.e-konsultation.de/netzpolitik. Dort finden sich auch die wichtigsten 14 Thesen der Rede, zu denen sich die breite Öffentlichkeit bis zum 23. 7. 2010 äußern konnte.

 
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