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RdF 2012, I
Van Hulle 

Solvency II: Fünf vor Zwölf!

Bei Solvency II gilt es, das richtige Maß zwischen Stabilität und Reaktivität der aufsichtsrechtlichen Anforderungen zu finden.

Abbildung 1

“Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Schutzmauern, die anderen Windmühlen”, so soll ein chinesisches Sprichwort sagen. Bei Solvency II, der Reform der europäischen Versicherungsregulierung, haben wir das Glück, dass die Mehrheit der Versicherer sich bislang nicht hinter Mauern versteckt, sondern sich aktiv mit um das Projekt bemüht. Denn der Reformbedarf ist offensichtlich: Solvency I kann als regelbasiertes, statisches und bürokratisches Aufsichtssystem der modernen und wandlungsfähigen Versicherungswirtschaft nicht mehr gerecht werden. Die krisenhaften Entwicklungen auf den Finanzmärkten haben diese Einschätzung bestätigt – insofern ist es “fünf vor zwölf”! Was wir benötigen, ist ein prinzipienbasiertes und vorausschauendes Aufsichtssystem, das die ökonomische Situation und die Risiken der Versicherer realistisch abbildet. Versicherer müssen über ein effektives Risikomanagement und geeignete Frühwarnsysteme verfügen. Solvency II wird ein solches modernes Aufsichtssystem bereitstellen und damit den Schutz der Versicherungsnehmer verbessern, die Finanzstabilität stärken und die Integration des europäischen Versicherungsmarkts vertiefen.

Die Situation auf den Finanzmärkten ist auch für die Versicherungswirtschaft eine große Herausforderung: Die Volatilität der Kapitalanlagenpreise ist unerwartet hoch, die Zinsen sind historisch niedrig, und selbst sichergeglaubte Investitionen leiden unter einem erheblichen Marktpreisverfall. Die Versicherungsaufsicht muss in die Lage versetzt werden, auf solch ungewöhnliche Marktsituationen angemessen zu reagieren. Nicht jede Marktbewegung bedeutet für einen Versicherer eine Veränderung seiner finanziellen Situation. Die Langfristigkeit des Versicherungsgeschäfts erlaubt es dem Aufseher, auf bestimmte Marktübertreibungen mit Augenmaß zu reagieren. Das verhindert ein prozyklisches Anlageverhalten der Versicherer und stabilisiert somit das Finanzsystem. Das Aufsichtssystem darf die Marktvolatilität aber nicht vollständig ausgleichen. Denn wenn bleibende Veränderungen auf den Finanzmärkten nicht mehr berücksichtigt werden, dann verfehlt das Aufsichtssystem sein Ziel. Die Realität der Finanzmärkte würde ein solches Vergehen bestrafen und dem Schutz der Versicherungsnehmer und der Finanzstabilität wäre ein Bärendienst erwiesen. Es gilt daher, in Solvency II das richtige Maß zwischen Stabilität und Reaktivität der aufsichtsrechtlichen Anforderungen zu finden. Die Veränderungen, die Solvency II mit sich bringt, sind teilweise als ein quid pro quo zu verstehen:So werden z. B. die willkürlichen Kapitalanlagebeschränkungen aus Solvency I wegfallen und durch das Prinzip der kaufmännischen Vernunft ersetzt. Im Gegenzug benötigen die Aufseher einen genaueren Einblick in die Kapitalanlagen des Versicherers, um die Einhaltung dieses Prinzips prüfen zu können. Wenn Interessenvertreter die neue Freiheit bei der Kapitalanlage begrüßen, aber den Aufsehern detaillierte Informationen über die Kapitalanlagen vorenthalten möchten, dann missverstehen sie die Logik des neuen Systems.

Ein Hindernis bei der Ausgestaltung der Reform war die Erwartung, dass Solvency II in der Standardberechnung der Kapitalanforderungen jedes Detail im Risikoprofil eines Versicherers abbilden soll. Das ist bei der Vielfalt an Versicherungsprodukten und Kapitalanlagen natürlich nicht zu leisten. Hier kann das Bessere oft der Feind des Guten werden, denn die Komplexität der Kapitalanforderungen steigt mit jedem Detail, das in seiner Berechnung berücksichtigt wird. Solvency II wird durch eine Reihe Instrumenten, wie unternehmensspezifische Parameter oder interne Modelle zur Berechnung der Kapitalanforderungen, flexibel genug sein, um jedes nachhaltige Geschäftsmodell zu unterstützen. Durch die regelmäßige Revision der Durchführungsmaßnahmen zu Solvency II wird die Regulierung auch lernfähig sein und sich an neue Risikoeinschätzungen genauso wie an Innovationen des Versicherungsgeschäftes anpassen können.

Die Entwicklung von Solvency II hat mehrere Jahre in Anspruch genommen. Es gehört zu den meistkonsultiertesten Projekten der Europäischen Kommission. Es ist nun an der Zeit, diese Reform gesetzgeberisch umzusetzen und Aufsehern und Versicherern ein modernes Aufsichtssystem bereitzustellen, das den Herausforderungen unserer Zeit angemessen ist. Die Versicherer sollten die verbleibende Zeit bis zur Anwendung von Solvency II im Jahr 2014 nutzen, um sich an die neuen Anforderungen anzupassen. Wie jede Systemumstellung wird auch Solvency II anfänglich einige Belastungen mit sich bringen. Aber ich bin überzeugt, dass der Nutzen des neuen Systems sich schnell erweisen wird, wenn sich die Versicherer bei Ihren Vorbereitungen “für eine Windmühle statt eine Schutzmauer” entscheiden.

Prof. Karel Van Hulle, Leiter des Referats Versicherungen und Renten, Europäische Kommission, Brüssel

 
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