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RIW 2020, I
Schütze 

Beratungsgeheimnis v. Dissenting Opinion

Abbildung 1

Eine neue Entscheidung des OLG Frankfurt/Main (Beschluss v. 16. 1. 2020 – 26 Sch 14/18, noch nicht rechtskräftig) ist geeignet, die Unabhängigkeit des Schiedsrichters im deutschen und internationalen Schiedsverfahren zu stärken und die Verfahrensgarantien im ordentlichen Zivilprozess und in Schiedsverfahren anzugleichen.

Das Beratungsgeheimnis ist im deutschen Zivilprozess und im Schiedsverfahren nach deutschem Schiedsverfahrensrecht unbestritten. Im Zivilprozess ist es in § 43 DRiG manifestiert. Es soll die Unabhängigkeit des Richters und Schiedsrichters schützen. Im common law-Prozess wird das anders gesehen. Dort sind Sondervoten zulässig.

Als nach dem zweiten Weltkrieg die Übernahme gewisser Rechtsinstitute aus dem anglo-amerikanischen Recht – z.B dem Kartellrecht – in Deutschland von vielen favorisiert wurde, war im Prozessrecht die dissenting opinion des common law ein Lieblingskind der Zivilprozessrechtswissenschaft. Sie wurde Gegenstand des 47. Deutschen Juristentages in Nürnberg 1968. Das Ergebnis heftiger Kontroversen war ein Kompromiss. Das Bundesverfassungsgericht darf abweichende Meinungen einzelner Richter veröffentlichen (§ 30 BVerfGG), alle anderen Gerichte dürfen das nicht.

Damit schien die bis dahin so hitzige Diskussion beendet. Aber weit gefehlt! Die zunächst geschlagenen Bataillone der Verfechter, die für eine Übernahme der im common law-Prozess praktizierten Möglichkeit von dissenting und concurring opinions gekämpft hatten, gaben nicht auf. Sie fanden ein neues Schlachtfeld in der Schiedsgerichtsbarkeit. Dieselben Autoren, die die Gleichwertigkeit von ordentlicher Gerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit – auch hinsichtlich der Verfahrensgarantien – vertreten, behaupten vielfach, das Beratungsgeheimnis, das sowohl das Richtergesetz (§ 43 DRiG: “Der Richter hat über den Hergang bei der Beratung und Abstimmung auch nach Beendigung seines Dienstverhältnisses zu schweigen.”) als auch das deutsche Schiedsverfahrensrecht kennen, habe unterschiedlichen Inhalt. Das Sondervotum eines Richters lege offen, wie er gestimmt habe; das Sondervotum eines Schiedsrichters offenbare das nicht, jedenfalls sei es zulässig. Das verstehe, wer kann!

Der Gesetzgeber hat die dissenting opinion bei der Neufassung des 10. Buchs der ZPO im Jahr 1998 ungeregelt gelassen mit einer geradezu skandalösen Begründung zur Novellierung des § 1054 ZPO:

“Die hiermit im Zusammenhang stehende Frage, ob dem Schiedsspruch ein Sondervotum (‘dissenting opinion’) beigefügt werden kann, bedurfte keiner ausdrücklichen Regelung; für das geltende Recht wird sie überwiegend für zulässig gehalten.”

Dieses Statement war unrichtig. Zum einen stammte eine der zwei in der Begründung angeführten Literaturstimmen (Calavros) aus dem griechischen Rechtskreis, wo die dissenting opinion gesetzlich geregelt ist; zum anderen standen schon damals mehrere Autoren mit ihrer gegenteiligen Ansicht der angeblich herrschenden Lehre der amtlichen Begründung gegenüber. Zu Gunsten der Redaktoren der amtlichen Begründung möge man gutmeinend annehmen, dass jene nur schlampig recherchiert haben und keine rechtspolitischen “fake news” verbreiten wollten. Heute halten sich nach neueren Untersuchungen (Kahlert, Kaissis) die Befürworter und Gegner des Sondervotums die Wage. Bedenklich ist aber, dass der Gesetzgeber sich mit der Berufung auf eine nicht bestehende herrschende Meinung einer Kodifizierung entzogen hat. Wenn eine solche Kodifizierungstechnik Schule machte, dann würde bei der nächsten BGB-Reform wahrscheinlich der § 242 BGB als überflüssig abgeschafft, weil sowieso überwiegend angenommen wird, dass der Schuldner verpflichtet ist, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

Nachdem bisher keine gerichtliche Entscheidung zur dissenting opinion in der Schiedsgerichtsbarkeit bekannt geworden ist, hat nun – endlich – das OLG Frankfurt/Main zu Sondervoten Stellung bezogen. In dem Beschluss heißt es sub Rn. 226:

“Es spricht allerdings nach Würdigung des Senats vieles dafür, dass die Offenlegung einer Dissenting Opinion auch unter Berücksichtigung der Erwägungen, mit denen der Gesetzgeber von einer diesbezüglichen Regelung abgesehen hat (. . .), in inländischen Schiedsverfahren unzulässig ist und gegen das für inländische Schiedsgerichte geltende Beratungsgeheimnis (. . .) verstößt. Die besondere Bedeutung des Beratungsgeheimnisses für den Schutz der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Schiedsrichter dürfte es überdies auch nahelegen, das Beratungsgeheimnis – auch nach abschließender Beratung und Erlass des Schiedsspruchs – nicht zur Disposition der Parteien und/oder der Schiedsrichter zu stellen und als Bestandteil des verfahrensrechtlichen ordre public anzusehen.”

Es mag bitter für einen Schiedsrichter sein, wenn eine aus seiner Sicht falsche Entscheidung ergeht. Das aber ist nichts Besonderes. Auch der staatliche Richter muss die bittere Pille schlucken, dass seine Kammer oder sein Senat eine Entscheidung erlässt, die er nicht mittragen will. Das alles wiegt gering gegenüber dem vom OLG apostrophierten hohen Gut der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des Richters und Schiedsrichters.

Im Grunde handelt es sich bei dem Streit über die Zulässigkeit des Sondervotums in der Schiedsgerichtsbarkeit um ein Akzeptanzproblem. Die Befürworter der Zulässigkeit der dissenting opinion befürchten eine Schwächung des Schiedsplatzes Deutschland, wenn aus dem common law-Rechtskreis stammende Parteien und Schiedsrichter nicht mit der ihnen gewohnten dissenting opinion rechnen können. Aber das sollte kein Grund für deren Einführung sein. Letztlich hat sich auch aus unserer abweichenden Auffassung von der prozessualen Gerechtigkeit in § 1057 ZPO das – allerdings verwässerte – Prinzip des costs follow the event, das den anglo-amerikanischen Parteien fremd ist, manifestiert, ohne dass dies einen erkennbaren Einfluss auf den Schiedsort Deutschland hätte. Möge der Gesetzgeber bei seinen Überlegungen für eine Novellierung des 10. Buchs der ZPO (dazu Münch, ZZPInt 23 [2018], 259) die Überlegungen des OLG Frankfurt/Main in die Waagschale werfen.

Professor Dr. Dr. h.c. Rolf A. Schütze, Rechtsanwalt, Stuttgart

 
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