Ein Blick nach Polen lohnt sich immer!
Warum gibt es in Polen keine räuberischen Aktionäre? Wie hat sich die deutsche Holzmüller-Doktrin nach ihrer Kodifikation im polnischen Aktienrecht weiter entwickelt? Welche Erfahrungen hat man dort mit dem Minderheitenvertreter im Aufsichtsrat gesammelt? Nach welchen Regeln könnte man den Sitz einer Kapitalgesellschaft zwischen Polen und Deutschland verlegen?
Diese und andere Fragen des deutsch-polnischen Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts stehen alljährlich im Mittelpunkt der Tagungen des Krakauer Rechtsforums. Es handelt sich dabei um einen Kreis von Wissenschaftlern aus Polen, Österreich und Deutschland, der sich neben dem fachlichen Austausch vor allem auch der Nachwuchsförderung verschrieben hat. Herausragende Doktorandinnen und Doktoranden können dort gleichberechtigt neben den arrivierten Wissenschaftlern vortragen und mitdiskutieren. Die Beiträge in diesem Heft der RIW legen davon Zeugnis ab. Sie gehen auf die Tagung des Krakauer Rechtsforums im Jahre 2009 in Würzburg zurück.
Das Interesse der deutschen Juristen am polnischen Recht ruht auf mehreren Säulen. Zunächst ist Polen für Deutschland einer der wichtigsten Wirtschaftspartner. Nicht ohne Stolz weist man dort gerne darauf hin, dass Polen selbst in Zeiten der weltweiten Finanzkrise durchgängig ein positives Wirtschaftswachstum vorweisen konnte. Weiterhin ist das polnische Rechtssystem auch aus rechtsvergleichender Sicht ein naher Verwandter. In Polen trifft man eine Rechtsordnung an, die aus Vorkriegszeiten eng mit der deutschen und österreichischen verwoben ist und die sich nach der Wende zur Marktwirtschaft erneut an diesen Vorbildern orientiert hat. Man kennt dort den Dualismus von Vorstand und Aufsichtsrat im Aktienrecht ebenso wie die Vorgesellschaft im Recht der GmbH und der AG. Die methodische Diskussion über “legal transplants”, die üblicherweise immer nur den Transfer US-amerikanischer Rechtsgedanken nach Deutschland vor Augen hat, erhält hier ungewohntes Anschauungsmaterial. Denn rechtliche Transplantate können zwischen wesensverwandten Rechtsordnungen naturgemäß besser funktionieren als zwischen Rechtsordnungen wie der US-amerikanischen und der deutschen, die sich im Grunde ihrer Seele bis heute fremd geblieben sind.
Nachdem sich Polen bereits zwei Jahrzehnte lang erfolgreich als marktwirtschaftliches System behauptet hat, ist es auch an der Zeit, dass nun die deutsche Seite von den Erfahrungen der polnischen Juristen lernt. Wenn in Polen der Einfluss der Hauptversammlung auf die Corporate Governance der Aktiengesellschaft größer ist als hierzulande (dazu der Beitrag von Katia Rener) und die Minderheitsaktionäre in der Gruppenwahl ein eigenes Aufsichtsratsmitglied bestellen können (wie Fabisch/Oplustil erläutern), sollte man das zumindest zur Kenntnis nehmen und über die Gründe für diese Abweichungen vom deutschen Vorbild nachdenken. Und wenn die Frage nach räuberischen Aktionären in Polen nur verständnislose Blicke auslöst, lohnt der Blick ins polnische Gesetz über Handelsgesellschaften. Dort findet sich zwar nach deutschem Vorbild die Anfechtungsklage gegen Hauptversammlungsbeschlüsse. Es genügte aber ein Federstrich des polnischen Gesetzgebers, um ganze deutschsprachig aktienrechtliche Bibliotheken zu Makulatur werden zu lassen: Die Anfechtungsklage hindert die Eintragung nicht. Somit ist der Kläger auf den allgemeinen einstweiligen Rechtsschutz verwiesen, wenn er meint, die Eintragung müsse verhindert werden, um seine Rechte zu sichern. Genau diese Konstruktion hat auf dem Erfurter Juristentag eine breite Mehrheit gefunden, ohne bislang in Gesetzesform gegossen worden zu sein. In Polen lässt sie sich am lebenden Objekt anschaulich studieren. Ebenso anschaulich sind allerdings die Schwierigkeiten, die man sich dort eingehandelt hat, indem man die deutsche Nichtigkeitsklage nur halbherzig übernommen hat. Der Katalog des § 241 AktG fehlt; daher droht bei jeder Verletzung von Gesetz oder Satzung die Nichtigkeit, wie auf der jüngsten Tagung des Krakauer Rechtsforums von Anwaltsseite beklagt wurde.
In der deutschen Rechtswissenschaft gehört es mittlerweile zum guten Ton einer jeden Abhandlung, einen rechtsvergleichenden Blick auf das US-amerikanische und englische Recht zu richten. Dabei liegt das Gespräch mit den polnischen Kollegen, die anders als ihre angelsächsischen Kollegen oft erstaunlich gut Deutsch sprechen, im Grunde viel näher. Im Kontext der europäischen Rechtsentwicklung drängt sich ein Dialog mit der polnischen Rechtswissenschaft geradezu auf. Denn uns beschäftigen dieselben Fragen, beispielsweise die rechtliche Regelung der Managervergütung (siehe dazu den Beitrag von Bedkowski) und die Interpretation der Europäischen Niederlassungsfreiheit (mit der sich der Beitrag von Teichmann und Ptak befasst). Und wir müssen sie in Rechtsordnungen implementieren, die in Systematik und Regelungstradition eng miteinander verwandt sind.
Dabei lässt die junge dynamische Rechtskultur des modernen Polen die deutsche, bisweilen etwas schwerfällige Diskussion in mancherlei Hinsicht eher alt aussehen. Aktuell wird dort über eine Reform des GmbH-Rechts nachgedacht, deren Grundzüge auf der Tagung des Krakauer Rechtsforums im Herbst 2010 vorgestellt wurden. Sollten die teilweise revolutionären Vorschläge Gesetz werden, hätte sich Polen in diesem Bereich vom Vorbild des deutschen GmbH-Gesetzes weitgehend emanzipiert. Man muss nicht gleich an einen umgekehrten Regelungstransfer denken. Aber lohnend ist der Blick nach Polen allemal.
Professor Dr. Christoph Teichmann, Würzburg