Eine neue Ära: die neuen ERA
“In short, if, as the Chinese say, a journey of thousand miles begins with a single step, the [ICC] Banking Commission is only a few steps down the road towards an eventual destination.”
Um an diesen Schlusssatz in meinem RIW-Editorial in Heft 2/2004, der den damaligen Stand der Überarbeitung der Einheitlichen Richtlinien und Gebräuche für Dokumentenakkreditive (ERA) betraf, anzuknüpfen: Endlich am Bestimmungsort angekommen! Nachdem zunächst von offizieller ICC-Seite an eine schnelle, “nur technische” Revision einzelner Kernpunkte gedacht worden war, entwickelte sich die Überarbeitung der ERA überraschenderweise sehr schnell zu einer Total-Revision, der sechsten und wohl aufwendigsten Revision der ERA seit deren Bestehen. Nun ist es aber geschafft! – Die ICC-Bankenkommission hat die neuen ERA (ERA 600) verabschiedet. Diese werden am 1. 7. 2007 in Kraft treten.
Ziel der ERA ist es, weltweit eine gleichförmige Abwicklung im Akkreditivgeschäft zu gewährleisten. Sie sollen die Entwicklung im Dokumentengeschäft sowie im internationalen Wirtschaftsverkehr widerspiegeln, die internationalen Bankusancen integrieren und die internationale Rechtsprechung berücksichtigen. Wie bei jeder der bisherigen Revisionen ging es darum, neuen Entwicklungen des Dokumentengeschäfts Rechnung zu tragen und diese in die ERA einzubauen. Einzelne Änderungswünsche seitens der deutschen Bankenlandschaft konnten im Rahmen der Revisionsarbeiten über die ICC Deutschland umgesetzt werden und finden jetzt ihren Niederschlag in den ERA 600. Die ICC Deutschland zeigte sich zufrieden. ““Ein großer Wurf . . .””, so Hanfried Poensgen, Mitglied der Geschäftsführung der ICC Deutschland.
Zu dem guten Gelingen der Revision beigetragen hat sicherlich die geschickte Aufteilung der Vorbereitungen auf die Consulting Group der ICC-Bankenkommission, welche die Basisarbeit geleistet hat, und die Drafting Group der ICC-Bankenkommission, die für die Redaktionsarbeit bezüglich der neuen Textfassung zuständig war. Wie letztendlich bei allen Regelwerken waren teilweise wegen der abweichenden Interessenlage der Beteiligten und der unterschiedlichen Praxis in verschiedenen Teilen der Welt nur Kompromisslösungen möglich.
Es ist leider versäumt worden, das Verhältnis der ERA zu dem ICC-Regelwerk der International Standard Banking Practice (ISBP) eindeutiger zu regeln. Bei dieser handelt es sich bekanntlich um einen Leitfaden für die Abwicklung des Akkreditivgeschäfts auf der Grundlage der ERA. Die ISBP haben keinen Richtliniencharakter und bilden auch keinen Anhang zu den ERA. Sie stellen vielmehr eine Empfehlung für das Verfahren dar, welches Dokumentenprüfer und andere Akkreditivbeteiligte bei der Prüfung der bei einem Dokumentenakkreditiv vorgelegten Dokumente einhalten sollten. Klar ist, dass die ERA die maßgebende Grundlage für die Akkreditivpraxis bilden; bei der Akkreditiveröffnung werden ausdrücklich auch nur die ERA, die nach deutschem Recht nach herrschender Auffassung AGB-Charakter haben, einbezogen.
Die künftige Praxis wird zeigen, ob durch die Neuregelung der ERA ein den Anforderungen der heutigen Praxis zeitgemäßes Regelwerk geschaffen worden ist. Es gibt guten Grund, optimistisch zu sein. Dass auch in Zukunft Opinions der ICC-Bankenkommission zur Auslegung der ERA erforderlich sein werden, kann als sicher gelten, da abstrakte Richtlinien nicht zu allen denkbaren Einzelfragen eine Regelung treffen können.
Rechtsanwalt Klaus Vorpeil, Gau-Bickelheim