Bürgergeld und steuerliche Freibeträge im Lichte der Rechtsprechung
Die Bundesregierung hat am 15.10.2024 den Bericht über die Höhe des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern für das Jahr 2026 (15. Existenzminimumbericht), Drs. 20/13550 vorgelegt. Die Berichte sind grundsätzlich prognostisch angelegt und können als Bindeglied zwischen dem sozialhilferechtlichen Existenzminimum und dem steuerrechtlichen Existenzminimum verstanden werden. Versuche auf Basis der Existenzminimumberichte die Höhe des steuerlichen Grundfreibetrages anzugreifen sind bisher allesamt gescheitert. Der BFH übernimmt in ständiger Rechtsprechung (zuletzt mit Urteil vom 27.7.2017 – III R 1/09), wie auch die Finanzgerichte, die in den Existenzminimumberichten angeführten Beträge und kommt so regelmäßig zu dem Ergebnis, dass verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Höhe des Grundfreibetrages nicht bestehen. Dies ist auch folgerichtig, da die Beträge einfach übernommen werden und bisher kein Existenzminimumbericht zu dem Ergebnis gelangte, dass die Grundfreibeträge verfassungswidrig sein könnten.
Das Niedersächsische Finanzgericht, der 7. Senat, machte sich mit der Richtervorlage vom 2.12.2016 die Mühe und ging der Frage nach, ob die Kinderfreibeträge für das Streitjahr 2014 in verfassungswidriger Weise zu niedrig bemessen wurden. Das Gericht kam zu der Überzeugung, dass dies so sei. Es setzte sich ausführlich mit den Berechnungsgrundlagen des Existenzminimumberichts auseinander, nahm diesen als Basis, wie bisher der BFH, und überprüfte die Berechnungsgrundlagen mit der Wirklichkeit.
Mit Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5.9.2024 kam das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass die Richtervorlage des Niedersächsischen Finanzgerichts unzulässig sei. In Rn. 34 führt es aus, dass die Begründung des vorlegenden Gerichts nicht nachvollziehbar und die Frage der Verfassungswidrigkeit nicht sorgfältig geprüft worden sei. Dabei kritisiert es die Vorgehensweise des FG, dass die Berechnungsparameter im Existenzminimumbericht angegriffen hat. Es führt aus: “Es erörtert jedoch nicht, weshalb es überhaupt auf die dort niedergelegten Erwägungen ankommen sollte.” Gemeint ist der Neunte Existenzminimumbericht. In Rn. 41 heißt es weiter, dass die Bedeutung der Existenzminimumberichte und auch des Neunten Existenzminimumberichts im Sinne einer Erkenntnisquelle darin liege, zum einen – vornehmlich – in tatsächlicher Hinsicht die Höhe der für die Bemessung des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums maßgeblichen Teilbeträge aufzuzeigen, zum anderen – nachrangig –, diese Beträge unter Beachtung der etablierten (verfassungs-)rechtlichen Vorgaben hin zum Existenzminimum zusammenzufassen (vgl. BFHE 227, 99, 129, Rn. 119; BFH, 5.8.2011 – III B 158/10, juris, Rn. 16; BFH, 19.3.2014 – III B 74/13, juris, Rn. 21; BFHE 259, 279, 283, Rn. 15 f. und 289, Rn. 37). Die Existenzminimumberichte der Bundesregierung erlaubten aber weder unbesehen einen Rückschluss darauf, welche Erwägungen der Festlegung des Kinderfreibetrags im parlamentarischen Verfahren zugrunde gelegen haben, noch begründen etwaige Mängel der Existenzminimumberichte bei der rechnerischen Konkretisierung des Existenzminimums einen Verfassungsverstoß. Die Erwägungen der Bundesregierung, die sich als Organ der Exekutive außerhalb eines Gesetzgebungsverfahrens äußert, leitet die von ihr ermittelten tatsächlichen Grundlagen für die Bemessung des Existenzminimums dem Deutschen Bundestag zur Kenntnisnahme lediglich zu. Mängel dieser Erkenntnisquelle, gleich ob sie im tatsächlichen Bereich angesiedelt oder bei der Zusammenfassung der tatsächlichen Grundlagen zum Existenzminimum angeführten (verfassungs-)rechtlichen Erwägungen festzustellen seien, führten nur dazu, dass der Existenzminimumbericht bei der Beantwortung der Frage, ob das Existenzminimum im Steuerrecht in einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Höhe verschont wird, außer Betracht bleiben müsse und die für die Bemessung des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums in tatsächlicher Hinsicht maßgeblichen Beträge gegebenenfalls in anderer Weise zu ermitteln wären. Diese alternative Berechnungsmethode fehlte im Vorlagebeschluss. Damit wäre geklärt, dass im ersten Schritt für eine erfolgreiche Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Grundfreibeträge die Berechnungsparameter im Existenzminimumbericht angegriffen werden muss, um diesen “an die Seite zu schieben” und einer anderen Berechnungsmethode den Vorzug zu geben.
Die bisherige Rechtsprechung zu diesen Rechtsfragen betraf durchweg das “alte” System und nicht das neue sozialhilferechtliche System des “Bürgergeldes”. Bemerkenswert ist, dass durch den Systemwechsel im Sozialhilferecht das BVerfG keine Notwendigkeit sieht, die bisher entwickelten Grundsätze der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu überdenken oder gar zu verwerfen. In Rn. 48, 49 bringt es zum Ausdruck, dass es sich nicht ohne Weiteres erschließe, dass die bisherigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts “nicht auf die gegenwärtige Rechtslage übertragbar” seien.
Was lässt sich nun aus diesen Erkenntnissen ableiten? Zum einen führt die Auseinandersetzung mit den Berechnungskriterien des Existenzminimumberichts nicht zur Verfassungswidrigkeit, sondern “nur” dazu, dass dieser im Sinne der Erkenntnisquelle außen vor bleibt. Zum anderen ist anschließend nachzuweisen, dass unter Anwendung der bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung der Grundfreibetrag zu gering bemessen ist. Der Systemwechsel von Sozialhilfe (Hartz IV) in das Bürgergeld spielt dabei keine Rolle.
Prof. Dr. iur. Michael Stahlschmidt M.R.F., LL.M., MBA, LL.M., RA/FAStR/FAInsSanR/FAMedR/StB, Dipl.-Betriebswirt/FH lehrt an der FHDW Paderborn Steuerrecht, Rechnungswesen und Controlling und ist Ressortleiter des Ressorts Steuerrecht des Betriebs-Berater und Chefredakteur Der SteuerBerater, Frankfurt am Main/Medebach.