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WRP 2024, I
Gomille 

Digitale Präsenz bei Gericht

Wie geht es weiter mit der Videoverhandlung im Zivilprozess?

Abbildung 1

Prof. Dr. Christian Gomille

Seitdem Videokonferenztechnik über Cloud-Anwendungen ubiquitär zur Verfügung steht und während der COVID-19-Pandemie auch erstmals ein dringendes praktisches Bedürfnis für ihren Einsatz im Zivilprozess entstand, zählen Videoverhandlungen beinahe überall zum Alltag der deutschen Gerichtsbarkeit. Das kann kaum verwundern, liegen doch – die grundsätzliche Eignung des jeweiligen Falls immer vorausgesetzt – die Vorteile dieser Form der Verfahrensführung klar auf der Hand: Man kann im Zweifel lange Anreisen vermeiden, was wiederum die Terminfindung erleichtert, das Verfahren beschleunigt und Ressourcen aller Art schont. Vor diesem Hintergrund hätte man eigentlich erwarten können, dass der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur weiteren Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten aus dem Mai 2023 (BR-Drs. 228/23; BT-Drs. 20/8095) recht rasch verabschiedet würde. Die Bundesländer meldeten allerdings Bedenken an und überwiesen das Gesetz in den Vermittlungsausschuss (BR-Drs. 604/23). Am 06.06.2024 wurde bekanntgegeben, dass die im Februar vertagten Beratungen am 12.06.2024 (nach Drucklegung dieses Heftes) fortgesetzt werden.

Nach den vom Deutschen Bundestag beschlossenen Neufassungen insbesondere des § 128a ZPO sowie des § 16 EGZPO soll die Grundkonzeption, wonach auch eine Videoverhandlung verfahrensrechtlich stets in einem Sitzungszimmer im Gerichtsgebäude stattfindet, nicht mehr zwingend für alle Fälle aufrechterhalten werden. Ausgangspunkt ist, dass der Vorsitzende nunmehr in allen geeigneten Fällen i. S. d. § 128a Abs. 1 ZPO auch den übrigen Mitgliedern des Gerichts die Teilnahme an der Verhandlung per Videokonferenz gestatten können soll (§ 128a Abs. 3 S. 2 ZPO). Spricht der Vorsitzende nun solche Gestattungen aus und kommen in der Folge sowohl sämtliche Beteiligten als auch die Mitglieder des Gerichts überein, per Videokonferenz zu verhandeln, kann nach § 128a Abs. 6 S. 1 ZPO auch der Vorsitzende die Verhandlung von einem anderen Ort als einem Sitzungszimmer leiten. Die Öffentlichkeit wird in einem solchen Fall nach § 128a Abs. 6 S. 2 ZPO dadurch hergestellt, dass die Videoverhandlung in Bild und Ton an einen öffentlich zugänglichen Raum im zuständigen Gericht übertragen wird. Die Erprobungsklausel des § 16 EGZPO soll nach dem gegenwärtigen Stand des Gesetzgebungsverfahrens dahingehend ausgedehnt werden, dass bei außerhalb eines Sitzungszimmers im Gerichtsgebäude stattfindenden Videoverhandlungen auch die Öffentlichkeit virtuell hergestellt wird, d. h. durch unmittelbaren Zugang zur Videoverhandlung als solcher.

Wer das bisherige Gesetzgebungsverfahren nachverfolgt, wird feststellen, dass diese doch erheblichen Änderungen an der bisherigen Handhabung der Videoverhandlung erst während der Behandlung im Rechtsausschuss des Bundestags in den Gesetzestext gelangten. So sollte nach dem Regierungsentwurf die zulässige Zuschaltung von Mitgliedern des Gerichts von erheblichen Gründen abhängig sein. Dafür spricht in der Tat, dass es ein Wert für sich ist, wenn ein Kollegialorgan gegenüber den Verfahrensbeteiligten als Einheit agiert und auch als solche wahrgenommen wird (BT-Drs. 20/8095, S. 51). Im Übrigen birgt die nunmehr vorliegende Fassung des § 128a Abs. 3 ZPO die Gefahr persönlicher Differenzen zwischen den Mitgliedern des Gerichts, wenn der Vorsitzende die Eignung des Falls zur Zuschaltung per Videokonferenz anders beurteilt als der zuschaltungswillige Kollege. Dass der Hinweis des Rechtsausschusses auf eine dadurch gewonnene größere Flexibilität diese Kritik aus den Ländern überwiegt, ist durchaus nicht frei von Zweifeln.

Mit der im Vermittlungsausschuss zu beratenden Fassung des § 128a Abs. 6 S. 2 ZPO lebt die Herstellung der Öffentlichkeit in Form einer „Kinosaallösung“ wieder auf, die bereits im Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) als § 128a Abs. 5 S. 2 ZPO enthalten war. Das ist deshalb erstaunlich, weil im Zuge der Diskussion über diesen Referentenentwurf einige Schwierigkeiten hinsichtlich der Praktikabilität dieser Form der Öffentlichkeitsherstellung zutage traten, die etwa den Umgang mit Übertragungsstörungen betreffen, oder auch Kapazitätsprobleme, wenn in den „Kinosaal“ zeitgleich mehrere Verhandlungen übertragen werden und einzelne davon geeignet sind, die gesamte Kapazität auszulasten. Unter anderem aus diesen Gründen wurde die Herstellung der Öffentlichkeit in einem Übertragungsraum bei Gericht im Regierungsentwurf in die Erprobungsklausel gemäß § 16 EGZPO verschoben.

Die als Erprobung nunmehr vorgesehene Möglichkeit einer Zuschaltung der Öffentlichkeit zu der Videoverhandlung selbst mutet ausgesprochen modern an, wirft hinsichtlich der konkreten Umsetzung aber doch einige grundlegende Fragen auf, insbesondere im Hinblick auf die hinter § 169 Abs. 1 S. 2 GVG stehenden Gedanken. Wer sich nämlich auch nur ein wenig mit dem traurigen Spektakel rund um den Verleumdungsprozess zwischen Johnny Depp und Amber Heard beschäftigt hat, wird der Vorstellung vom Sitzungszimmer als einem geschützten Raum womöglich so manches abgewinnen können.

Aktuellen Berichten zufolge soll die Kritik aus den Ländern insbesondere an den Möglichkeiten vollvirtueller Verhandlungen zumindest teilweise berücksichtigt werden (vgl. LTO, Videoverhandlung unter Richtervorbehalt, vom 10.04.2024). Nach den Beratungen am 12.06.2024 wird man sicherlich Genaueres wissen.

Prof. Dr. Christian Gomille, Saarbrücken

 
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