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ZHR 185 (2021), 461-470
Müller-Graff 

Pandemiedruck im Binnenmarktrecht

Der Pandemiedruck im Binnenmarktrecht betrifft die Substanz der Europäischen Union. “Das ökonomische Flechtwerk, dem die Union ihren Zusammenhalt verdankt, droht augenscheinlich zu zerreißen”, bemerkte der Historiker und politische Philosoph Luuk van Middelaar zur ersten Etappe des Coronajahres 2020.1 In atemberaubender Folge ereignete sich seuchengetrieben Außergewöhnliches im Binnenmarktraum: multiple Grenzkontrollen,2 innerunionale Einreisebeschränkungen für Marktakteure mit der Unionsbürgerschaft anderer Mitgliedstaaten,3 Ausreisebeschränkungen von Marktakteuren eigener Staatsangehörigkeit,4 Ausfuhrbeschränkungen für medizinische Hilfsmittel,5 staatliche Stützungsprogramme für die Wirtschaft in schwindelerregenden Größenordnungen,6 ereignisgetrieben hohe Staatsverschuldungen7 sowie Unternehmenskooperationen im Gesundheitssektor.8 Zerfallabwehrend wurde sodann unionspolitisch revolutionär ein großes unionales “Aufbauinstrument” geschaffen9 und die Kommission zu entsprechender Unionsverschuldung ermächtigt.10 Zugleich ertönten europäische AutarkieforderungenZHR 185 (2021) S. 461 (462) für die Arzneimittelherstellung.11 Die Frage liegt auf der Hand: Ist das unionale Wirtschaftsordnungsrecht12 imstande, diese Vorkommnisse zu bewältigen, ohne seine primärrechtlich verpflichtenden Grundsatzorientierungen zu dementieren – auf eine offene Marktwirtschaft mit freiem, vor Verfälschungen geschütztem Wettbewerb auf der Grundlage des Binnenmarkts (Art. 119 Abs. 1 AEUV, Art. 3 Abs. 3 EUV, Protokoll Nr. 27), und auf “gesunde öffentliche Finanzen” (Art. 119 Abs. 3 AEUV)?

I. Im manifesten Widerspruch zu den Freiverkehrsgewährleistungen des Binnenmarktes stehen innerunionale Grenzkontrollen, Einreise- und Ausreisebeschränkungen sowie Ausfuhrbeschränkungen.

1. Nach dem binnenmarktelementaren Schengener Grenzkodex dürfen Binnengrenzen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.13 Jedoch gestattet der Kodex bei “ernsthafter Bedrohung” “der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit in einem Mitgliedstaat” diesem “unter außergewöhnlichen Umständen” die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen “als letztes Mittel” für einen begrenzten Zeitraum unter Einhaltung bestimmter Verfahrensvorschriften.14 Die Bedrohung der öffentlichen Gesundheit wird allerdings nicht ausdrücklich genannt und wäre bei Anwendung der im binnenmarktlichen Freiverkehrsrecht vom EuGH befolgten engen Auslegung von Ausnahmebestimmungen15 und des Begriffs der “öffentlichen Ordnung”16 nicht erfasst. Dies stünde aber im Widerspruch zur wirksamen Durchsetzung von zum Zweck der Pandemiebekämpfung gerechtfertigten Einreisebeschränkungen (infra 2). Allerdings unterliegt die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen systemstimmig dem Maßstab strenger Verhältnismäßigkeit. Sie darf nach Art. 25 Abs. 1 “in Umfang und Dauer nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung unbedingt erforderlich ist”.

2. Innerunionale Einreisebeschränkungen für Unionsbürger mit anderer Staatsangehörigkeit17 konfligieren gravierend mit nahezu allen Grundfreiheiten des Binnenmarktes: Arbeitnehmerfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit,ZHR 185 (2021) S. 461 (463) Niederlassungsfreiheit, Warenverkehrsfreiheit. Sie sind offene Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit und trennen auch Grenzregionen, in denen transnationale Arbeitspendler, Dienstleister, Dienstleistungsempfänger, Ein- und Verkäufer längst europäischer Alltag geworden sind.18 Umso striktere Anforderungen sind an die aus Gründen des Gesundheitsschutzes mögliche Rechtfertigung (Art. 36, 45 Abs. 3, 52 Abs. 1, 62 AEUV) zu stellen. Zwar muss es Sache der Mitgliedstaaten sein, denen nach Art. 168 Abs. 7 AEUV die Verantwortung der Festlegung ihrer Gesundheitspolitik, der Organisation des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung obliegt, in welchem Umfang sie Gesundheitsschutz gewährleisten19 (und in casu die Überlastung ihrer Behandlungskapazitäten vermeiden). Jedoch beschränkt die Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG die Rechtfertigbarkeit von Einreisebeschränkungen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit auf – hier einschlägig – “Krankheiten mit epidemischem Potenzial” (im Sinne der “einschlägigen Instrumente” der WHO) und “sonstige übertragbare, durch Infektionserrreger oder Parasiten verursachte Krankheiten, sofern gegen diese Krankheiten Maßnahmen zum Schutz der Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats getroffen werden”.20 Die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird von dieser sekundärrechtlichen Norm anders als bei Einreisebeschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit nicht ausdrücklich aufgeführt, ist jedoch dem primärrechtlichen Binnenmarktrecht zu entnehmen. Dadurch ist die Notwendigkeit differenzierter Angemessenheitsbeurteilungen vorgespurt (z.B.: Warentransporteure, Arbeitspendler, Saisonarbeiter, Personen mit triftigen Gründen), zumal auch das allgemeine Freiheitsrecht des Art. 6 GRCh i.V.m. Art. 51 Abs. 1, 52 GRCh zu beachten ist. Das digitale COVID-Zertifikat der EU21 sollte die Erforderlichkeit von Einreisebeschränkungen grundsätzlich entfallen lassen.

3. Ausreisebeschränkungen von Arbeitspendlern, wie sie seitens Tschechiens angeordnet wurden,22 beinhalten ein besonderes Rechtfertigungsproblem.ZHR 185 (2021) S. 461 (464) Die Berufung auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit in anderen Mitgliedstaaten dürfte nach bisherigem Verständnis der Rechtfertigungstatbestände23 zweifelhaft sein.24 Sie sollte aber als Verwirklichung der Unionsaufgabe konzertierter Pandemiebekämpfung (Art. 168 Abs. 5 AEUV) aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) anerkannt werden. Soll mit einer (verhältnismäßigen) Ausreisebeschränkung der Gefahr der Infektionseinschleppung durch rückkehrende eigene Staatsbürger vorgebeugt werden, geht es um rechtfertigbaren Inlandsschutz.

4. Ausfuhrbeschränkungen von medizinischen Hilfsmitteln (z.B. Masken, Schutzkleidung, Behandlungsmittel, Impfstoffe)25 stehen im Widerspruch zum Verbot der mengenmäßigen Ausfuhrbeschränkungen und/oder Maßnahmen gleicher Wirkung (Art. 35 AEUV). Hier hält das Primärrecht den Rechtfertigungsgrund des Schutzes der Gesundheit und des Lebens von Menschen bereit (Art. 36 AEUV), allerdings erneut unter der Bedingung der Verhältnismäßigkeit der konkreten Maßnahme.

II. Auch die binnenmarktrechtlichen Wettbewerbsregeln sind pandemieverursacht unter Druck geraten.

1. Dies gilt zum einen für das Kartellrecht im Hinblick auf Unternehmenskooperationen zu Produktion und Vertrieb von COVID-19-Behandlungsmitteln und zur Impfstoffentwicklung. So deutete die Erklärung der großen Impfstoffhersteller GlaxoSmithKline und Sanofi, ein Vakzin gemeinsam entwickeln zu wollen,26 auf die kartellrechtskonzeptionell besonders schwere Beschränkung des Innovationswettbewerbs.27 Denn die Entwicklung von Neuheiten wird zuvörderst dem unbeschränkten Wettbewerb zugeschrieben (“Wettbewerb als Entdeckungsverfahren”28). Tatsächlich haben unternehmerische wettbewerbliche Forschungs- und Investitionsanstrengungen (wiewohl mit Absicherungen durch öffentliche Hände29) zügig verschiedene COVID-19-Impfstoffe hervorgebracht. Das Kartellverbot des Art. 101 AEUV steht aber einer Kooperation zur Entwicklung und Produktion eines Schutz- oder Heilmittels nicht generell im Wege. Ist keines der beteiligten Unternehmen allein zu einer raschen Entwicklung imstande, beschränkt das Zusammenwirken nicht den Wettbewerb, sondern ermöglicht erst die Teilnahme an ihmZHR 185 (2021) S. 461 (465) (sog. Arbeitsgemeinschaftsgedanke30). Wenn aber doch, kann die Gruppenfreistellungsverordnung für F&E-Vereinbarungen31 unter den dort genannten Voraussetzungen greifen. Werden diese nicht erfüllt, kommt eine Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV insbesondere unter dem Gesichtspunkt des technischen Fortschritts in Betracht. Das Risiko der Falschsubsumtion lastet jedoch auf den Unternehmen. Höchst anerkennswert reaktivierte die Kommission in der Pandemielage daher das Instrument des selbstbindenden “Comfort Letter” im Fall der ihr mitgeteilten Produktions- und Vertriebskooperation von COVID-19-Behandlungsarzneimitteln.32

2. Ein deutlich breiterer Konflikt mit den binnenmarktrechtlichen Wettbewerbsregeln ist für das Beihilfenrecht durch die pademiebegründeten großdimensionalen staatlichen Unterstützungsprogramme33 entstanden, mögen sie auch nur teilweise genutzt werden34. Auch wenn nicht jede Hilfsmaßnahme als Beihilfe und selektive Förderung i.S.d. Art. 107 AEUV qualifizieren mag, ist doch das Potenzial dieser Programme unabweisbar, durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb zu verfälschen. Allerdings ist das Binnenmarktrecht auch insoweit realitätsreagibel auf Bedürfnisse eingestellt, die eine Vereinbarkeit ermöglichen. Denkbar ist, bestimmte Leistungen als ex lege zulässige Kompensationsbeihilfen für Schäden anzusehen, die “durch außergewöhnliche Ereignisse entstanden sind” (Art. 107 Abs. 2 Buchst. b AEUV), unbeschadet der auch hier erforderlichen Verhältnismäßigkeitsüberprüfung durch die Kommission.35 Bei Andauer der Pandemie ebenso wie angesichts künftiger Pandemien als Teil der Globalisierung36 wird sich ein Verständnis deren “Außergewöhnlichkeit” jedoch schwerlich perpetuieren lassen. Naheliegender ist daher eine Vereinbarkeitsprüfung nach Art. 107 Abs. 3 AEUV unter den Gesichtspunkten der “Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats” oder der “Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige”.

Dieser von der Kommission unverzüglich im März 2020 eingeschlagene Weg mündete in die sie selbstbindende, mehrfach erweiterte und mittlerweileZHR 185 (2021) S. 461 (466) bis 31. 12. 2021 verlängerte37 Mitteilung “Befristeter Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von COVID-19”.38 Er benennt zahlreiche für eine Freistellung zu erfüllenden Voraussetzungen, darunter das Angemessenheitsprinzip39 und die wettbewerbskonzeptionell stimmige Bedingung, dass Beihilfen nicht Unternehmen gewährt werden können, die sich bereits am 31. 12. 2019 in Schwierigkeiten befanden.40 Der Grad verlässlicher Überprüfbarkeit dieses Kriteriums bleibt freilich zweifelhaft. Betraf die Mitteilung zunächst vor allem klassische Hilfsmaßnahmen für die Unternehmensliquidität “zur Erholung” (z.B. direkte Zuschüsse und Steuervorteile), so wurden sodann weitere Stützungen einbezogen:41 Stundungen von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen,42 Lohnzuschüsse für Arbeitnehmer zur Vermeidung von COVID-19-bedingten Entlassungen,43 Beihilfen für kleine und Kleinstunternehmen, selbst wenn sich diese bereits vor dem 31. 12. 2019 in finanziellen Schwierigkeiten befunden hatten,44 Entlastungen von ungedeckten Fixkosten45 sowie Rekapitalisierungsmaßnahmen in Form von Eigenkapitalinstrumenten (insbesondere staatliche Aktienbeteiligung) und/oder hybriden Kapitalinstrumenten (insbesondere Genussrechte, stille Beteiligungen, Wandelanleihen).46 Deren Genehmigung ist wettbewerbskonzeptionell stimmig an detaillierte Bedingungen geknüpft: u.a. Vergütungsregeln für die staatliche Investition und Vermeidung übermäßiger Wettbewerbsverfälschungen (“keine aggressive, durch staatliche Beihilfen finanzierte Geschäftsexpansion . . . oder übermäßige Risiken”) sowie Ausstiegsstrategien. Ob jedoch temporäre Staatsbeteiligungen das Verlangen nach Abgabe von vorpandemisch errungenen Marktpositionen erfordern (so die Abgabe von Zeitnischen an Drehkreuzen des Luftverkehrs),47 ist zweifelhaft. Das wettbewerbsverzerrende und kohäsionspolitische Großproblem unterschiedlich voluminöser Beihilfeprogramme der Mitgliedstaaten48 löst der “temporäre Rahmen” freilich nicht.

ZHR 185 (2021) S. 461 (467)

3. Ein Problem neuer Größenordnung wächst mit dem “Aufbauinstrument”49 (aus den am Kapitalmarkt von der Union aufnehmbaren Mitteln von 750 Mrd. €50) auf das primärrechtlich angestrebte System zu, das den Wettbewerb im Binnenmarkt vor Verfälschungen schützt (Protokoll Nr. 27). Auch wenn nur ein Teil dieser Mittel Unternehmen fördert, ist angesichts der asymmetrischen Verteilung nach Ländern und Programmen51 auch die Gefahr von Verzerrungen in einer unbekannten Zahl von Wettbewerbsverhältnissen zu gewärtigen. Dieses Problem wird allein mit der Begründung aus den Notlagekompetenzen des Art. 121 AEUV52 nicht erledigt. Vielmehr erfordert die innere Stimmigkeit des Unionsrechts einen Abgleich mit den Wertungen der Vereinbarkeitsbestimmungen des Art. 107 AEUV für staatliche Beihilfen. Zu unterscheiden ist, ob die Fördermaßnahme einem Mitgliedstaat oder der Union selbst zuzurechnen ist.

Liegt die Verteilungspraxis von Mitteln des “Aufbauinstruments” in der Autonomie eines Mitgliedstaats, besteht kein Grund, sie nicht der regulären Beihilfenaufsicht zu unterwerfen. Normsystemstimmig ist daher die Ankündigung der Kommission, dass beim “Übergang” vom Krisenmanagement zur wirtschaftlichen Erholung “die Beihilfenkontrolle . . . die Umsetzung der Aufbau- und Resilienzfazilität begleiten und erleichtern” wird53 und dass sie “in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten sicherstellen (wird), dass im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität geförderte Investitionsprojekte mit den Beihilfevorschriften vereinbar sind”.54 Dies kann eine Großaufgabe werden.

Sollte hierbei jedoch eine selektive (industriepolitische) Förderung bestimmter Tätigkeiten (namentlich in den Bereichen IT und “grüne” Produktion) durch Unionsprogramme vorgespurt werden, müsste auch die unionale Steuerung auf den Prüfstand der Kriterienstimmigkeit für binnenmarktkompatible wettbewerbsverfälschende Förderungen. Normativ ergibt sich dieses Postulat bereits aus der Unionsaufgabe, einen Binnenmarkt in einem Schutzsystem gegen Wettbewerbsverfälschungen zu errichten (Protokoll Nr. 27), und aus dem die Union bindenden Verbot, industriepolitisch “irgendeine Maßnahme” einzuführen, “die zu Wettbewerbsverzerrungen führen könnte” (Art. 173 Abs. 3 AEUV). Das “Aufbaufinstrument” bietet der Union die Gelegenheit, einen (nicht nur für diesen Anlass anwendbaren) Kriterienkodex für die binnenmarktliche Vereinbarkeit wettbewerbsverfälschender unionaler Maßnahmen zu entwickeln. Er würde sich systemperfektionierendZHR 185 (2021) S. 461 (468) zum aktuellen Anliegen der Kommission fügen, die Regelungslücke für Unternehmensbeihilfen durch Drittstaaten (z.B. Unternehmenserwerb durch ein staatsgefördertes chinesisches Unternehmen) zu schließen.55

III. Wirtschaftsordnungsrechtliche Grundsatzfragen für die angestrebte offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (Art. 119 Abs. 1 AEUV) ergeben sich aus der von der Besorgnis pandemiebedingter Engpässe bei Arzneimitteln56 ausgelösten politischen Forderungen nach europäischer Produktionsautarkie.57 Dies thematisiert Produktionssteuerung und Außenhandelsabschirmung. Die gesundheitspolitische Zielsetzung erledigt nicht die Problemdimension des Eingriffs in die wettbewerbliche Beschaffung aus Drittstaaten. Unklar ist bereits die Zuständigkeit der Union zu einer derartigen Selbstversorgungspolitik. Einen Ansatzpunkt kann die “unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten” stehende geteilte gesundheitspolitische Kompetenz der Union für “Fördermaßnahmen zum Schutz . . . der menschlichen Gesundheit sowie insbesondere zur Bekämpfung der weitverbreiteten schweren grenzüberschreitenden Krankheiten” und für “Maßnahmen zur . . . Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren” bilden (Art. 168 Abs. 5 AEUV). Außerhalb des Gesundheitsbereichs (z.B. Halbleiter) ist die industriepolitische Unterstützungszuständigkeit (Art. 173 Abs. 3 AEUV) zur Gewährleistung der “notwendigen Voraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Union” “entsprechend einem System offener und wettbewerbsorientierter Märkte” zur “Erleichterung der Anpassung der Industrie an die strukturellen Veränderungen” (Art. 173 Abs. 1 AEUV) allenfalls mit Auslegungsakrobatik für Selbstversorgungsziele aktivierbar. Sollten diese zugleich mit Schutzmaßnahmen gegen Einfuhren aus Drittstaaten verbunden werden, stünde der Union zwar die ausschließliche außenhandelspolitische Zuständigkeit zur Verfügung (Art. 207 AEUV), doch müsste diese im Einklang mit den die Union als Mitglied der WTO58 bindenden welthandelsrechtlichen Regeln (GATT) ausgeübt werden.

IV. Der pandemieverursachte Finanzbedarf der öffentlichen Haushalte zur Bewältigung des wirtschaftlichen Einbruchs setzt zugleich das Recht der Wirtschafts- und Währungsunion unter Druck.

1. Die massiven pandemiebegründeten Staatsverschuldungen der Mitgliedstaaten – so etwa die beiden Nachtragshaushalte der Bundesrepublik in HöheZHR 185 (2021) S. 461 (469) von 122,5 Mrd. € (im März 2020)59 und 103 Mrd. € (im Juni 2020)60 – geraten in Konflikt mit den Pflichten der Mitgliedstaaten, bei ihrer Tätigkeit den “richtungsweisenden Grundsatz” “gesunder öffentlicher Finanzen” einzuhalten (Art. 119 Abs. 3 AEUV) und “übermäßige öffentliche Defizite” zu vermeiden (Art. 126 Abs. 1 AEUV). Allerdings ermöglichen das Unionsrecht und der im Gefolge mitgliedstaatlicher Haushaltskrisen außerhalb des Unionsrechts abgeschlossene Vertrag über die Stabilisierung, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion die Ausnahme, “bei einem außergewöhnlichen Ereignis, das sich der Kontrolle des betreffenden Mitgliedstaats entzieht und erhebliche Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen hat”, “vorübergehend von dem Anpassungspfad in Richtung auf das mittelfristige Haushaltsziel abzuweichen, vorausgesetzt, dies gefährdet nicht die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen”.61 Hier gerät das Recht offensichtlich an die Grenzen finanzpolitischer Prognosen.

2. Das von der EZB am 26. 3. 2020 begonnene62 und zwischenzeitlich auf 1.850 Mrd. € erhöhte63 Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP) für Anleihen öffentlicher und privater Schuldner zum Zweck der Aufrechterhaltung günstiger Finanzierungsbedingungen während der Pandemie muss, soweit es um den Ankauf öffentlicher Anleihen geht, dieselben unionsrechtlichen Voraussetzungen erfüllen und Grenzen einhalten wie das umstrittene PSPP-Anleihenankaufprogramm (“Public Sector Purchase Programme”64). Es hat sich im Rahmen der Zuständigkeit des ESZB halten, die, “soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist”, das Gebot der Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik in der Union einschließt (Art. 127 Abs. 1 AEUV). Gleichermaßen ist die Zuständigkeitsausübungsregel der Verhältnismäßigkeit einzuhalten (Art. 5 Abs. 4 EUV), allerdings nur im Verhältnis eines Programms zu den Haftungsfolgen65 und im Verhältnis der wirtschaftspolitischen Auswirkungen verschiedener, gleichwertig die Geldwertstabilität si-ZHR 185 (2021) S. 461 (470)chernder Programme,66 nicht aber, wie es anscheinend das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) annimmt,67 auch im Verhältnis der absolut vorrangigen Sicherung der Preisstabilität zu den wirtschaftspolitischen Auswirkungen. Auch das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung (Art. 123 Abs. 1 AEUV) und dessen Umgehungsverbot68 sind zu beachten. Trotz des vom EuGH der EZB gewährten “weiten Ermessens” in Fragen der Erforderlichkeit und Angemessenheit69 ist vom EuGH zu erwarten, dass er nach dem (wenn auch unionsrechtswidrigen, weil gegen das Verfahrensrecht des Art. 267 Abs. 3 AEUV verstoßenden70) PSPP-Urteil des BVerfG71 Begründungen der EZB vertieft überprüfen wird (auch wenn dies letztlich doch in den “weiten Ermessenraum” der EZB zurückführen dürfte). Soweit Unternehmensanleihen vom ESZB angekauft werden, ist zu fragen, inwieweit eine eventuelle selektive Erwerbspraxis kompatibel mit dem Schutzsystem gegen Wettbewerbsverfälschungen ist.

V. Schließlich besteht eine Herausforderung des europäischen Wirtschaftsordnungsrechts auch durch die vorgesehene epochal große Unionsverschuldung.72 Denn das Gebot der Einhaltung des “richtungsweisenden Grundsatzes” “gesunder öffentlicher Finanzen” adressiert ausdrücklich auch die Tätigkeit der Union. Ob oder wie dies gelingt, wird die künftige politische Diskussion bestimmen.73

VI. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass das Binnenmarktrecht zwar in einen pandemischen Ausnahmezustand geraten ist, diesen indes weitgehend mittels klug eingebauten Ausnahmevorschriften elastisch bewältigen kann, ohne seine Grundorientierungen missachten oder verleugnen oder gar einen wirtschaftsordnungsrechtlichen Systemwechsel ins Auge fassen zu müssen. Auch unter diesen Gegebenheiten sind diejenigen Regeln der Normallage einzuhalten, die jede (abweichende) Maßnahme nur dann legitimieren, wenn sie zur Erreichung eines unionsrechtlich anerkannten Zieles unter Wahrung des unionsrechtlichen Gesamtsystems geeignet, erforderlich und angemessen sind. Diese aufgeklärte Vernünftigkeitsregel ist bei Freiverkehrsbeschränkungen, wettbewerbsrelevanten Staats- und Unionshilfen, Autarkieplänen und Unternehmenskooperationen, aber auch bei der Verschuldung öffentlicher Haushalte und ESZB-Programmen zu beachten. Videant consules iudicesque.

Peter-Christian Müller-Graff

1

Van Middelaar, Das europäische Pandämonium, 2021, S. 12.

2

European Parliament, Study: In the Name of Covid-19: An Assessment of the Schengen Internal Border Control and Travel Restrictions; van Middelaar (Fn. 1), S. 84 ff.

3

Europäische Kommission (8. 4. 2020), COM(2020) 148 final.

4

Frasch/Löwenstein, FAZ v. 1. 5. 2021, https://www.faz.net/-gq5–ab5od.

5

Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (5. 3. 2020), Exportverbot für medizinische Schutzausrüstung, https://www.bafa.de; van Middelaar (Fn. 1), S. 73 ff.

6

Z.B. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (3. 4. 2020), Wirtschaftsstabilisierungsfonds, https://www.bmwi.de.

7

Z.B. Bundesministerium der Finanzen, Das Konjunkturprogramm, https://www. bundesfinanzministerium.de.

8

Z.B. Europäische Kommission, COM(2020) 3200 final, ABl.EU 2020 CI 116, S. 7; GlaxoSmithKline, PM v. 14. 4. 2020 https://de.gsk.com/de-de/presse.

9

VO (EU) 2020/2094 des Rates v. 14. 12. 2020 zur Schaffung eines Aufbauinstruments der Europäischen Union zur Unterstützung der Erholung nach der COVID-19-Krise, ABl.EU 2020 LI 433, S. 23.

10

Art. 5 des Beschlusses (EU, Euratom) 2020/2053 des Rates v. 14. 12. 2020 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union und zur Aufhebung des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom, ABl.EU 2020 L 424, S. 1.

11

Fortuna, Kommission will Arzneimittelproduktion nach Europa “zurückholen”, https://www.euractiv.de/section/eu-innenpolitik/news.

12

Zum Konnex Müller-Graff, in Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR Bd. 4), 2. Aufl. 2021, § 1 Rdn.1 ff.

13

Art. 22 VO (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 9. 3. 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen, ABl.EU 2016 L 77, S. 1.

14

(Fn. 13), Art. 25.

15

Vgl. von der Groeben/Schwarze/Hatje/Müller-Graff, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 36 AEUV Rdn. 23 ff.; Streinz/Müller-Graff, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 52 AEUV Rdn. 8 f.

16

EuGH v. 27. 10. 1977, Rs. 30/77 (Bouchereau), ECLI:EU:C:1977:172 Rdn. 33 ff.; von der Groeben/Schwarze/Hatje/Müller-Graff (Fn.15), Art. 36 AEUV Rdn. 49 ff., 106.

17

Van Middelaar (Fn. 1), S. 88.

18

Z.B. für die bayerisch-böhmische Grenzregion bei Cham Frasch/Löwenstein (Fn. 4); zum pandemiegetriebenen Wiederauftauchen “alter Trennlinien” in der badisch-elsässischen und saarländisch-lothringischen Grenzregion Bender, FAZ v. 13. 7. 2021, S. 9.

19

EuGH v. 20. 5. 1976, Rs. 104/75 (de Peijper), ECLI:EU:C:1976:67 Rdn. 14–18.

20

Art. 29 Abs. 1 RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29. 4. 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ABl.EU 2004 L 158, S. 77.

21

VO (EU) 2021/953 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14. 6. 2021 über einen Rahmen für die Ausstellung, Überprüfung und Anerkennung interoperabler Zertifikate zur Bescheinigung von COVID-19-Impfungen und -Tests sowie der Genesung von einer COVID-19-Infektion (digitales COVID-Zertifikat der EU) mit der Zielsetzung der Erleichterung der Freizügigkeit während der COVID-19-Pandemie, ABl.EU 2021 L 211, S. 1.

22

Frasch/Löwenstein, FAZ v. 1. 5. 2021, https://www.faz.net/-gq5–ab5od.

23

Vgl. von der Groeben/Schwarze/Hatje/Müller-Graff (Fn. 15), Art. 36 AEUV Rdn. 37 f.

24

S. aber bei der Warenausfuhr die Berücksichtigbarkeit der Interessen des Einfuhrlandes EuGH v. 25. 1. 1977, Rs. 46/76 (Bauhuis), ECLI:EU:C:1977:6 Rdn. 43 ff.

25

Van Middelaar (Fn. 1), S. 73 ff.

26

Supra Fn. 8.

27

Möschel, in: FIW (Hrsg.), Strukturanpassung durch Wettbewerb oder Beihilfen?, 1985, S. 87.

28

von Hayek, Freiburger Studien, 1969, S. 249.

29

Van Middelaar (Fn. 1), S. 79 ff.

30

Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, S. 120f.; Vedder/Heintschel von Heinegg/Müller-Graff, Europäisches Unionsrecht, 2. Aufl. 2018, Art. 101 AEUV Rdn. 25.

31

VO (EU) Nr. 1217/2010 der Kommission v. 14. 12. 2010 über die Anwendung von Art. 101 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung, ABl. EU 2020 L 335, S. 36.

32

Europäische Kommission, DG Wettbewerb, Comfort Letter v. 8. 4. 2020 COMP/OG – D (2020/044003).

33

Supra Fn. 6.

34

Seibel (25. 5. 2021), https://www.welt.de/wirtschaft/article231306813/Corona-Sonderfonds-WSF-Hilfsmilliarden-des-Staates-liegen-ungenutzt-herum.html.

35

Vedder/Heintschel von Heinegg/Müller-Graff (Fn. 29), Art. 107 AEUV Rdn. 23.

36

Safranski, Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?, 2003, S. 16.

37

Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 28. 1. 2021.

38

Europäische Kommission, COM(2020) 1863 final, ABl.EU 2020 CI 9, S. 1.

39

Europäische Kommission (Fn. 38), 1. 3.

40

Europäische Kommission (Fn. 38), Ziff. 22 Buchst. c, 23 Buchst. e, 25 Buchst. h, 27 Buchst. g.

41

Europäische Kommission, COM(2020) 2215 final, ABl.EU 2020 CI 112, S. 1; COM(2020) 3156 final, ABl.EU 2020, C 164, S. 3; COM(2020) 4509 final, ABl.EU 2020 C 218, S. 3; COM(2020) 7127 final, ABl.EU 2020 CI 340, S. 1.

42

COM(2020) 2215 final (Fn. 41), Ziff. 21.

43

COM(2020) 2215 final (Fn. 41), Ziff. 22; COM(2020) 4509 final (Fn. 40), Ziff. 17.

44

COM(2020) 4509 final (Fn. 41), Ziff. 15.

45

COM(2020) 7127 final (Fn. 41), Ziff. 41.

46

COM(2020) 3156 final (Fn. 41), Ziff. 37.

47

Zur Lufthansa vgl. Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 25. 6. 2020.

48

Van Middelaar (Fn. 1), S. 100.

49

Supra Fn. 9.

50

Supra Fn. 10.

51

Zum Ansatz vgl. Europäische Kommission, Europäischer Aufbauplan, https://ec.europa.eu/info/strategy/recovery-plan-europe_de; van Middelaar (Fn. 1), S. 109.

52

Supra Fn. 9.

53

Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 13. 10. 2020: Staatliche Beihilfen.

54

Europäische Kommission (Fn. 53).

55

Europäische Kommission, Weißbuch: Gewährleistung fairer Wettbewerbsbedingungen bei Subventionen aus Drittstaaten, COM(2020) 253.

56

Supra Fn. 11.

57

Ausgeweitet auf Halbleiter: Kafsack, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/die-planification-der-eu-17327231.html.

58

Hilpold, Die EU im GATT/WTO-System, 4. Aufl. 2018; Müller-Graff (Hrsg.), Die Europäische Gemeinschaft in der Welthandelsorganisation, 2000.

59

Bundesministerium der Finanzen, Pressemitteilung v. 23. 3. 2020.

60

Bundesministerium der Finanzen, Pressemitteilung v. 17. 6. 2020.

61

Art. 5 Abs. 1 UAbs. 10 VO (EG) Nr. 1466/97 des Rates v. 7. 7. 1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und der Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, ABl.EU 1997 L 209, S. 1 i.d.F. der VO (EU) Nr. 1175/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16. 11. 2011, ABl.EU 2011 L 306, S. 12; Art. 3 des Vertrages über die Stabilisierung, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion v. 2. 3. 2012.

62

Beschluss (EU) 2020/440 der Europäischen Zentralbank v. 24. 3. 2020 zu einem zeitlich befristeten Pandemie-Notfallankaufprogramm, ABl.EU 2020 L 91, S. 1; van Middelaar (Fn. 1), S. 94 ff.

63

Europäische Zentralbank, Pressemitteilung v. 10. 12. 2020.

64

Beschluss (EU) 2015/774 der Europäischen Zentralbank v. 4. 3. 2015 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten, ABl.EU 2015 L 121, S. 20.

65

Dazu EuGH v. 11. 12. 2018, Rs. C-493/17 (Weiss), ECLI:EU:C:2018:1000 Rdn. 71 ff.

66

Müller-Graff, EuZ 2020, 163.

67

BVerfGE 154, 17 Rdn. 141, 167 ff.; dagegen z.B. Hellwig, NJW 2020, 2501

68

EuGH (Fn. 65), Rdn. 105 ff.

69

EuGH (Fn. 65), Rdn. 73.

70

Vgl. z.B. Calliess, DL 2020, 409; Hellwig, NJW 2020, 2499; Meier-Beck, EuZW 2020, 522; Müller-Graff, GPR 2020, 167; ders., EuZ 2020, 155, 165 f.; Nettesheim, NJW 2020, 1631; Pernice, EuZW 2020, 517; Tilmann, IWRZ 2020, 166.

71

Supra Fn. 67.

72

Supra Fn. 10.

73

Mussler (24. 6. 2021), https://www.faz.net/-gqe-adoz5.

 
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