R&W Abo Buch Datenbank Veranstaltungen Betriebs-Berater
Logo ruw-online
Logo ruw-online
Suchmodus: genau  
 
 
ZHR 169 (2005), 523-527
Henze 

Wirtschaftsbelange der Kapitalgesellschaften versus Minderheits- und Gläubigerschutz: Aspekte der neueren Rechtsprechung des BGH

I. Bestandsaufnahme

Holzmann1 und Holzmüller2, Kali und Salz3, Autokran4, Video5, TBB6, DAT/Altana7 oder IBH/Lemmerz8 – um nur einige zu nennen – ließen die Herzen einst höher schlagen. Die eine oder andere Entscheidung löst diesen Erregungszustand auch heute noch aus. Die Motive dazu waren und sind allerdings unterschiedlich: Anerkennung und Freude war und ist die eine Seite, ablehnende Kritik und Verärgerung die andere. Eines ist diesen Entscheidungen jedoch gemeinsam: Ihnen liegt der Minderheiten- und Gläubigerschutz im Kapitalgesellschaftsrecht zugrunde. Bezieht man andere Urteile wie Kochs-Adler9 und Girmes10 in die Betrachtung ein, müsste man auch von dem Schutz der Mehrheit vor der Minderheit sprechen. Denkt man noch an ITT11, Linotype12 oder Deutsche Bank13, entsteht eher der Gedanke des Ausgleichs unterschiedlicher Interessen.

Mittlerweile hat sich die Entscheidungslandschaft verändert. Holzmann ist durch Siemens v. Nold14 abgelöst und durch Mangusta/Commerzbank15 er¬ZHR 169 (2005) S. 523 (524)gänzt worden. Gelatine16 interpretiert Holzmüller und macht eine Fülle kluger Gedanken aus dem Schrifttum zu Makulatur. Der Neue Markt in Gestalt der Haffa-Brüder zwang die Rechtsprechung dazu, Anleger- und Gläubigerschutz zu gewichten17 und bei den börsennotierten Gesellschaften das bislang in der Rechtsprechung einträchtige Lager von Minderheitsaktionären und Gläubigern zu spalten. Auch das Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsgebot geriet noch einmal in das Visier des Bundesgerichtshofes.18 Die Gestalt von Autokran und Video war durch TBB bereits verändert worden, nachdem im Jahre 1992 der Unmut der kleineren Unternehmen und ihrer Berater über den BGH hereingebrochen war. Aber auch TBB konnte nur als Zwischenlösung bestehen und mündete in die Haftung aus Existenz vernichtendem Eingriff ein.19

II. Widersprüche in der Rechtsprechung des BGH?

Die sorgfältig abwägenden Ausführungen von Holzmann übertrugen die Rechtsprechung zu den materiellen Beschlussvoraussetzungen, die für den Ausschluss des Bezugsrechtes der Aktionäre bei der ordentlichen Kapitalerhöhung in Kali und Salz entwickelt worden waren, auf die Regelung des Genehmigten Kapitals.20 Dieses Institut war mit der Aktienrechtsnovelle 1937 in das Gesetz21 aufgenommen worden, um den Gesellschaften eine schnelle Reaktion auf Entwicklungen des Kapitalmarktes zu ermöglichen. Dadurch sollten sich die durch § 51 Abs. 1 AktG 193722 gebrandmarkten Vorratsaktien als überflüssig erweisen. Wie Martens in einem Beitrag23 eindrucksvoll dargelegt hat, war das Genehmigte Kapital, nachdem Holzmann 1982 erlassen worden war, nicht mehr funktionsfähig. Die räuberischen Aktionäre hatten es sehr rasch als Erpressungspotential und Einnahmequelle entdeckt. Sie setzten es mit der Erhebung einer Fülle von Anfechtungsklagen außer Gefecht. Der BGH reagierte mit Siemens v. Nold: Er bettete die Entscheidung über den Bezugsrechtsausschluss in die unternehmerische Entscheidung des Vorstandes über die Inanspruchnahme des Genehmigten Kapitals ein. Die Gesellschaften waren wieder in der Lage, auf Entwicklungen des Kapitalmarktes rasch und angemessen zu reagieren. Das Verfahren Mangusta/Commerzbank setzte den ZHR 169 (2005) S. 523 (525)Schlusspunkt: Der Vorstand ist nicht verpflichtet, den Aktionären vor seiner Entscheidung über die Inanspruchnahme des Genehmigten Kapitals und den Ausschluss ihres Bezugsrechts einen schriftlichen Bericht – auf welchem Wege auch immer – zuzusenden. Alles in allem handelt es sich um eine wirtschaftliche sinnvolle Entscheidung, die aber nur dann Bestand haben kann, wenn die Organe Vorstand und Aufsichtsrat den großen Vertrauensvorschuss, der ihnen mit diesen Entscheidungen gewährt worden ist, nicht enttäuschen und ihrer treuhänderischen Verantwortung gegenüber allen Aktionären gerecht werden.

Auch die Interpretation von Holzmüller durch Gelatine ist in diesen Zusammenhang zu stellen. Der Sinn von Holzmüller – angemessene Wahrung der Aktionärsrechte bei Aufrechterhaltung eines sinnvollen Leitungs- und Geschäftsführungsrechtes des Vorstandes – war durch die Entwicklung einer Fülle von gegensätzlichen Meinungen im Schrifttum unkenntlich gemacht worden. Entsprechend verunsichert reagierten die Wirtschaft und ihre Rechtsberater. Eine Frucht dieser Verunsicherung präsentiert sich in der Form des Sachverhalts, der dem Urteil Altana/Milupa24 zugrundeliegt. Schon damals hätte der BGH die Axt so walten lassen müssen, wie er das mit Gelatine getan hat. Der Wirtschaft und ihren Rechtsberatern wäre über 4 ¾ Jahre viel Arbeit und Ärger erspart geblieben.

Unscheinbar waren die beiden Urteile, mit denen der BGH im Dezember 2002 und im November 2003 eine Verschärfung des Kapitalaufbringungsgebotes und anschließend des Kapitalerhaltungsgebotes im GmbH-Recht anvisierte:

  • Die Leistung zur freien Verfügung der Geschäftsführung ist ausgeschlossen, wenn der Einlagebetrag an den Inferenten oder ein mit ihm verbundenes Unternehmen absprachegemäß umgehend als Darlehen zurückfließt.25

  • Kreditgewährungen an Gesellschafter aus dem gebundenen Vermögen der GmbH sind grundsätzlich als verbotene Auszahlung von Gesellschaftsvermögen anzusehen. Das ist auch dann der Fall, wenn der Rückzahlungsanspruch gegen den Gesellschafter im Einzelfall vollwertig ist.26

Spektakulär waren die Entscheidungen, mit denen die Grundsätze der Haftung im qualifiziert faktischen GmbH-Konzern aufgegeben und – mittels Umlegung in einen breiter angelegten, von Konzernbindungen freien Haftungsbereich – durch die Haftung aus Existenz vernichtendem Eingriff ersetzt worden sind.27 Diese aus dem Gedanken des Missbrauchs der Rechtsform der GmbH abgeleitete, als Durchgriff auf den Gesellschafter konzipierte Haftung ZHR 169 (2005) S. 523 (526)ist als Schließung der Lücke gedacht, die dann entsteht, wenn der Gesellschafter, ohne das gebundene Vermögen anzutasten, Vermögen der Gesellschaft in einer Art und Weise beiseite schafft, dass sie ihren Gläubigerverbindlichkeiten nicht mehr nachkommen kann, also illiquide wird.

Diese Haftung aus Existenz vernichtendem Eingriff und die oben dargestellte Verschärfung der Grundsätze der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung führen zu einem nahezu perfekten Minderheiten- und Gläubigerschutz.28 Die Nachteile, die beide Grundsätze im GmbH-Konzern herbeiführen oder die im Aktienrechtskonzern von der Verschärfung des Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsprinzips29 ausgehen können, sind vor kurzem in einer angesehenen Wirtschaftszeitung30 mit der Schlagzeile im Stile von „Bild“ umschrieben worden: „Wenn Konzerne um die Kohle kämpfen“. Der Untertitel warnte, jetzt werde die Fremdfinanzierung schwieriger, und er verkündete die (Halb-)Wahrheit, der Bundesgerichtshof habe die interne Kontenverrechnung verboten. Diese Schlagzeilen vermitteln genau die Reaktion, die durch die neue Rechtsprechung bei den Konzernen und Kapitalgesellschaften hervorgerufen wird. In der Tat: Die konzerninterne Fremdfinanzierung, die juristisch als Darlehensgewährung gewertet wird31, ist schwieriger geworden, weil man einmal das Vermögen, das die Kapitalziffer deckt (bei der AG auch das zur Bildung der gesetzlichen Rücklage erforderliche Vermögen), aus dem Kreislauf herausnehmen muss. Der Existenz vernichtende Eingriff ist haftungsrechtlich eine unbekannte und kaum berechenbare Größe. Bei der AG kommt eine Vermögensblockade durch das Vermögensbindungsprinzip des § 57 AktG hinzu, wenn man die Regelung so versteht, dass das gesamte Gesellschaftsvermögen der strengen Bindung unterliegt wie dasjenige, das Kapitalziffer und gesetzliche Rücklage abdeckt. „Tertium non datur“ heißt es dazu.32 Die Folge wäre: Für den Aktienrechtskonzern hätte der Untertitel im Handelsblatt die Folgen der Rechtsprechung zur verschärften Kapitalbindung zutreffend umschrieben. Daraus würde weiter folgen, dass den Aktienrechtskonzernen nur noch die Möglichkeit des virtuellen (notional) Cash-Pooling verbliebe. Das müsste man konsequenterweise auch für den GmbH-Konzern annehmen, wenn man den Existenz vernichtenden Eingriff als unberechenbare Größe ansieht. Also gab der Untertitel des Handelsblattes doch die volle – und nicht eine Halb-Wahrheit wieder? Festzuhalten bleibt in ZHR 169 (2005) S. 523 (527)jedem Falle: Unter konzernwirtschaftlichem Aspekt ist die Rechtsprechung zum Existenz vernichtenden Eingriff und zur Verschärfung der Grundsätze der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung keineswegs zu begrüßen, wohl aber unter dem Gesichtspunkt des Minderheiten- und Gläubigerschutzes. Die Entwicklung von Holzmann zu Siemens v. Nold und Mangusta/Commerzbank sowie das Erfordernis eines klarstellenden Wortes bei Holzmüller durch Gelatine sollte sich die Rechtsprechung auch hier vor Augen führen und einen Ausweg für die konzerninterne Fremdfinanzierung suchen. Der Gesetzgeber wird es ihr – wie schon so häufig – danken und die gefundene Lösung in Gesetzesform gießen. Die Lösung muss nicht immer in dem Durchschlagen des gordischen Knotens bestehen.

Zu der gordischen Lösung neigt der BGH offensichtlich bei der Bereinigung des Konfliktes zwischen Anleger- und Gläubigerschutz bei den börsennotierten Gesellschaften.33 Die Gesellschaft wird in diese Lösung durch Auferlegung einer Haftung einbezogen, die ihr gesamtes Vermögen erfasst. Das schwächt ihre wirtschaftliche Position. Man könnte hier zwar auch an eine Lösung denken, die nur das nicht durch die Kapitalziffer und die gesetzliche Rücklage gebundene Vermögen erfasst34 und die Position der Gesellschaft wirtschaftlich damit weniger schwächen würde. Der BGH hat diesen Interessenausgleich nicht gewollt, sondern die Totallösung bevorzugt, wenn das entscheidungserheblich auch (zunächst) nur für die Fälle der sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung ausgesprochen worden ist. Offenbar ist diese Rechtsprechung durch die verbraucherschutzfreundlichen Lösungen beeinflusst, die der II. Zivilsenat in den letzten Jahren für den Anlegerschutz bei dem Beitritt zu geschlossenen Immobilienfonds entwickelt hat. Ob das der Weisheit letzter Schluss ist?

Hartwig Henze

1

BGHZ 83, 319.

2

BGHZ 83, 122.

3

BGHZ 71, 40.

4

BGHZ 95, 330.

5

BGHZ 115, 187.

6

BGHZ 122, 123.

7

BGHZ 147, 108.

8

BGHZ 110, 47.

9

BGHZ 107, 296.

10

BGHZ 129, 136.

11

BGHZ 65, 15.

12

BGHZ 103, 184.

13

BGHZ 125, 239.

14

BGHZ 136, 133.

15

BGH, Urt. v. 10. 10. 2005 – II ZR 148/03 – kein Vorstandsbericht vor dem Beschluss des Vorstandes über die Inanspruchnahme Genehmigten Kapitals mit Bezugsrechtsausschluss.

16

BGHZ 149, 30 und BGH, Urt. v. 26. 4. 2004 – II ZR 154/02, Der Konzern 2004, 421.

17

BGH, Urt. v. 9. 5. 2005 – II ZR 287/02, ZIP 2005, 1270 – EM.TV.

18

BGHZ 153, 107; BGHZ 157, 72.

19

BGHZ 149, 10 – Bremer Vulkan; BGHZ 151, 181 – KBV.

20

§§ 202ff. AktG.

21

Gesetz über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien vom 30. 1. 1937, RGBl. I. S. 17.

22

§ 56 Abs. 3 AktG.

23

Martens, ZIP 1992, 1667; vgl. dens. auch ZIP 1994, 669, 670 zu dem Urteil Deutsche Bank.

24

BGHZ 146, 288.

25

BGHZ 153, 107.

26

BGHZ 157, 72.

27

BGHZ 149, 10 – Bremer Vulkan; BGHZ 151, 181 – KBV; BGH, Urt. v. 20. 9. 2004 – II ZR 302/02, ZIP 2004, 2138 – Klinik; BGH, Urt. v. 13. 12. 2004 – II ZR 206/02, ZIP 2005, 117 – Autohaus.

28

Vgl. dazu Henze, WM 2005, 717.

29

Ob und in welchem Rahmen die Haftung aus Existenz vernichtendem Eingriff im Aktienrecht Bedeutung erlangen kann, ist in der Rechtsprechung noch nicht entschieden; vgl. dazu Henze, WM 2005, 717, 725f.

30

Handelsblatt vom 24. 8. 2005 – Recht und Steuern – S. 33.

31

Die gegenteilige Meinung von Hommelhoff, WM 1984, 1105, 1106f., es handele sich um organisationsrechtliche Vorgaben der Konzernspitze, hat sich bislang nicht durchgesetzt.

32

H. M., vgl. statt aller KölnKommAktG/Lutter, 2. Aufl., § 57 Rdn. 5 m.w.N.; dagegen eingehend und überzeugend Schön, FS Röhricht, 2005, S. 559.

33

BGH, Urt. v. 9.5.2005 – II ZR 287/02, ZIP 2005, 1270, 1272f.

34

Überzeugend Schön, FS Röhricht, 2005, S. 559, 567f.; vgl. auch Henze, NZG 2005, 109, 120f.

 
stats