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ZLR 2014, 637
Hagenmeyer 

Cui bono?

Kurze Anmerkungen zum Geltungsbeginn der LMIV

Wer liest eigentlich das Editorial der ZLR? Sie wissen es auch nicht genau? Immerhin gehören Sie dazu; das freut mich. Und weil Sie bis hierher durchgehalten haben, habe ich gleich eine Bitte an Sie: Falls Sie sich durch dieses Editorial wider Erwarten nicht angesprochen fühlen sollten, reichen Sie es bitte an mindestens zwei Personen weiter, die es Ihrer Meinung nach unbedingt lesen sollten. Wenn es Ihnen dagegen gefällt, machen Sie das bitte auch. Vielen Dank! Auf geht’s:

Seit dem 13. 12. 2014 gilt die Lebensmittelinformationsverordnung (EU) Nr. 1169/2011 (LMIV). Mehr als drei Jahre Zeit hatten Unternehmen, Behörden und Gesetzgeber, sich darauf einzustellen. Dabei nehme ich an, dass Millionen von Verbrauchern weder je etwas von der Verordnung gehört haben, noch sich für sie interessieren. Warum auch? An einem Messestand des BLL bat unlängst ein Verbraucher darum, auf Lebensmittelverpackungen, auf denen ja so viel geschrieben stehe, doch bitte noch ein kleines Feld anzubringen – „mit Informationen für die Verbraucher“. Diesem Mann kann vielleicht geholfen werden, aber gewiß nicht durch die LMIV.

Die meisten Unternehmen haben es inzwischen geschafft, ihre Kennzeichnungen an die neuen Vorschriften anzupassen. Sie haben Nährwertangaben in die richtige Reihenfolge gebracht, Derivate möglicherweise allergieauslösender Verarbeitungshilfsstoffe graphisch hervorgehoben, die Herkunft pflanzlicher Öle ermittelt, alkoholische Getränke mit „Alk“ statt „alc“ deklariert (was sich nach der Berichtigung der Verordnung vom 18. 11. 2014 nun rückblickend als unnötig erweist) und bestehen darauf, dass ihre Lieferanten ihnen auf keinen Fall nanoskalige Zutaten liefern. Manche grübeln auch noch darüber nach, ob sie ihren Joghurt lieber in eckige Kartons abfüllen sollten, damit sie die Pflichtangaben auf einer Seite noch kleiner anbringen können und ihre Packungen gegenüber runden Bechern mit gleichem Volumen nicht benachteiligt werden, die nun einmal eine größere Mantelfläche besitzen. Es soll sogar Unternehmen geben, die bei der Kommission um weitere Definitionen bitten, nicht nur für „Oberfläche“, beispielsweise auch für „Portion“ und „Verzehreinheit“. Meine Studenten im zweiten Semester schlugen dazu vor: Eine Schüssel Müsli ist eine Portion, ein Löffel Müsli ist eine Verzehreinheit. Liebe Unternehmen, möchte man da sagen, macht Euch keine Sorgen, der Nachwuchs kann selber denken und wird es auch ohne Kommissions-Leitlinie schaffen.

Von den Behörden hört man erfreulicherweise, dass sie die neue Verordnung mit Augenmaß anwenden wollen. Welcher Kontrolleur hat schon Lust, Buchstabengrößen mit der Schublehre nachzumessen? Auch die anfangs gefürchtete Mengenkennzeichnung von Zutaten hat in der Vergangenheit bekanntlich kaum zu behördlichen Beanstandungen geführt. Das sollte bei der Allergenkennzeichnung von loser Ware nicht anders werden. Im Fokus der Überwachung werden auch künftig irreführende Angaben stehen. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden, gäbe es nicht bisweilen den ZLR 2014 S. 637 (638)einen oder anderen Beamten, der es übertreibt. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren wegen angeblich missverständlicher Fruchtabbildungen gehen ganz bestimmt zu weit. Bildliche Darstellungen von Geschmacksrichtungen werden durch die LMIV nicht generell verboten, jedenfalls noch nicht. Liebe Staatsdiener, überlasst das Erbsenzählen bitte Aschenputtel; vor falsch sortierten Nährwerttabellen oder unpräzisen Vitaminbezeichnungen brauchen Verbraucher nicht geschützt zu werden.

Kommen wir nun zu unserem Sorgenkind, dem Gesetzgeber. Hier muss man leider festhalten, dass jedenfalls die deutschen Bundesministerien das Klassenziel nicht erreicht haben. Weder konnten Unternehmen vom BMWi rechtzeitig erfahren, welche nationalen Regelungen zur Füllmengenkennzeichnung erhalten bleiben sollen. Noch hat das BMEL es geschafft, innerhalb von drei Jahren eine Durchführungsverordnung mit Vorschriften zur Allergenkennzeichnung für lose Ware und Sanktionsnormen zu erlassen. In der LZ war dazu kürzlich noch von amtlicher Seite zu lesen, das sei nicht so schlimm, Verstöße gegen die LMIV könnten ja über die bestehenden Vorschriften der Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung (LMKV) weiter geahndet werden. Liebe Ministerialbeamte, das stimmt nicht, das wäre illegal! Die Tatsache, dass deutsche Regierungsorgane solche Behauptungen aufstellen, ist ein Skandal, über den sich aber niemand empört, interessanterweise auch diejenigen nicht, die sonst mit öffentlicher Empörung ihr Geld verdienen.

Und die europäischen Gesetzgeber? Sie wollten ja die Kennzeichnungsvorschriften straffen, um den Akteuren die Einhaltung zu erleichtern und ihnen mehr Klarheit zu verschaffen. Deswegen sollte ihre Verordnung Rechtsvorschriften vereinfachen, den Verwaltungsaufwand verringern und eine klare, verständliche und lesbare Kennzeichnung vorschreiben. Dass sie diese Ziele gründlich verfehlt haben, zeigt die Praxis ebenso wie die einschlägige Literatur zur LMIV. Die Verordnung wirft im Vergleich zu ihren Vorgängern erheblich mehr Probleme auf als sie löst – von strafferen Vorschriften ganz zu schweigen. Vor allem ist das Recht für Unternehmen und Behörden nicht klarer geworden und die Kennzeichnung für Verbraucher auch nicht verständlicher. Jahrelang haben wir z. B. gelernt, dass zu viel Natrium nicht gut für uns ist. Jetzt verkauft man uns das Natrium als „Salz“ – auch in Lebensmitteln, die gar kein Salz enthalten.

Selbst wer es gut findet, dass mit der LMIV sechs Richtlinien und eine Verordnung aufgehoben wurden, muß doch mit Sorge die Regelungsflut beobachten, die durch die LMIV ausgelöst wird. Seit ihrem Inkrafttreten sind schon drei delegierte Rechtsakte und zwei Durchführungsverordnungen zur LMIV erlassen worden, von denen eine allerdings schon am Tag nach ihrer Veröffentlichung für „null und nichtig“ erklärt wurde. Das ist aber nur der Anfang. Die LMIV enthält an insgesamt 24 Stellen Ermächtigungsgrundlagen für delegierte und Durchführungsrechtsakte; in einem Fall kann sich die Kommission sogar selbst Ermächtigungsgrundlagen für ihre eigenen Durchführungsverordnungen schaffen. Auf Jahre hin werden also immer weitere Verordnungen auf uns zukommen, ständig wird zu prüfen sein, ob gerade erst ange¬ZLR 2014 S. 637 (639)passte Etiketten noch verwendet werden können. Wozu soll das gut sein? Vielleicht hilft es dem einen oder anderen Verbraucher, wenn er noch mehr Details erfahren kann, dass etwa seine Weihnachtsgans tatsächlich aus Polen kommt. Unternehmen und Behörden aber haben gewiss keinen besonderen Nutzen durch permanent unfertige Gesetze. Meiner jüngsten Doktorandin hat diese ausufernde Regelungstechnik genug Stoff für eine ganze Dissertation geliefert; sie kommt übrigens zu dem Ergebnis, dass nicht alle Ermächtigungen rechtmäßig sind.

Welche Vorteile bringt das neue Gesetz eigentlich? War nicht die Angabe von Verkehrsbezeichnung, Zutatenverzeichnis, Mindesthaltbarkeit und Füllmenge schon mehr als dreißig Jahre lang vorgeschrieben? Trugen nicht bereits die meisten Lebensmittel Nährwerttabellen? In keinem Land der Welt hat eine verpflichtende Nährwertdeklaration bisher nachweislich zu Rückgang ernährungsassoziierter Krankheiten geführt. Und Regelungen zum Fettgehalt von Kamillentee braucht wirklich kein Mensch!

Betrachtet man die LMIV also aus rechtshistorischer Perspektive, dann wäre man fast geneigt zu fragen: Wie haben wir es ohne dieses Werk bis hierher geschafft? Und vor allem: Wer hat diese Neuregelung gewollt? Eine Antwort darauf ergibt sich, wenn man noch einen Schritt weitergeht und die vielleicht entscheidende Frage stellt, wem nämlich die LMIV am meisten nützt. Die Verbraucher sind es nicht, sie bekommen kaum mehr Informationen als bisher. Die Unternehmen, die alle Etiketten ändern mussten und nie sicher sein können, sie nicht alsbald wieder ändern zu müssen, sind es auch nicht. Das gilt genauso für die Überwachungsbehörden, die der Rechtsentwicklung regelmäßig hinterhereilen. So bleibt, nimmt man die Zunft der Berater einmal aus, wohl nur ein Beteiligter, der wirklich davon profitiert, dass er sich auf Jahre hin mit der LMIV beschäftigen und ständig an ihr basteln darf. Jetzt wissen Sie auch, an wen Sie dieses Editorial weiterreichen könnten. Kommen Sie gut ins neue Jahr!

Prof. Dr. Moritz Hagenmeyer, Hamburg

 
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