Endlich Klarheit am Kühlregal?
Liebe Leserin, lieber Leser,
haben auch Sie sich schon einmal gefragt: warum brauchen Menschen, die sich fleischlos oder weniger fleischlastig ernähren wollen, überhaupt eine “vegane Wurst”, wenn man doch bewusst auf Fleisch verzichtet? Wäre es nicht konsequenter, ganz auf andere Lebensmittel zu setzen? Die Antwort: für viele geht es nicht darum, den Geschmack von Fleisch abzulehnen, sondern um die Bedingungen seiner Produktion und die Klimabilanz. Genau deshalb entscheiden sie sich für pflanzliche Alternativen – die ihnen vertraut schmecken und gleichzeitig ihren ethischen Überzeugungen entsprechen. Doch wie sollen diese Produkte bezeichnet werden, damit es Markt nicht zu Verwirrungen zwischen dem “Original” und der “Alternative” kommt?
Um genau diese Fragen zu beantworten, wurde sechs Jahre lang verhandelt, und jetzt sind sie da: die neuen Leitlinien der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission für vegane und vegetarische Lebensmittel. Das – verkürzte – Problem: Was darf noch “Wurst” heißen, wenn kein Fleisch drin ist? Wie nah darf ein Ersatzprodukt dem Original kommen, ohne Verbraucher zu täuschen? Diese Fragen betreffen nicht nur Hersteller, sondern auch jeden, der bewusst einkauft. Mit der Neufassung soll mehr Klarheit geschaffen werden. Und das ist wichtig: 2023 stieg die Herstellung solcher Produkte um 16,6 % gegenüber dem Vorjahr, seit 2019 hat sie sich mehr als verdoppelt (113,8 %).1 Die Botschaft und zugleich der Anspruch: gleicher Genuss wie bei Fleisch, nur nachhaltiger und mit einem guten Gewissen. Das ist bequem – Klima und Tierwohl fördern, ohne Gewohnheiten zu ändern. Aber genau hier wird es lebensmittelrechtlich relevant: Je ähnlicher die Ersatzprodukte dem Original sind, desto größer ist die Gefahr, dass Verbraucher versehentlich zu einer falschen Ware greifen – ob zu einem Fleischpatty oder einem Seitanpatty. Somit steigt das Irreführungspotenzial im Kampf um die Gunst der Verbraucher.
In diesem Rahmen bewegen sich die Leitsätze der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission für vegane und vegetarische Lebensmittel, welche die Verkehrsauffassung zur Deklaration von Fleischalternativen festlegen sollen. Sie stellen ein System zur Verfügung, das abgestufte Anforderungen an die Ähnlichkeit der Produkte festlegt und Klarheit darüber schaffen soll, ob eine bestimmte Bezeichnung im Verkehr üblich ist oder nicht. Wenn Hersteller die Leitsätze einhalten, können sie davon ausgehen, dass ihre Kennzeichnung rechtskonform ist.
Die Leitlinien wurden am 10. September 2024 neugefasst; glücklich mit der vorausgegangenen Version waren die wenigsten. Ziel war, einige der unklaren Begriffsbestimmungen zu präzisieren. Sie teilen sich auf in allgemeine Beurteilungsmerkmale
Erstens wurde der Anwendungsbereich genauer gefasst: Die Leitlinien gelten u. a. für “vegane und vegetarische Lebensmittel, die als solche oder gleichbedeutend gekennzeichnet oder ausgelobt werden” (Nr. 1). In der vorigen Fassung mussten die vegetarischen oder veganen Lebensmittel noch genau “als solche ausgelobt” sein. Das führte zu dem seltsamen Ergebnis, dass nach dem Wortlaut zwar “vegane Tofu-Wurst” in den Anwendungsbereich der Leitlinien fielen, “Tofu-Wurst” indes nicht.2
Kern der Leitlinien ist, dass Fleisch durch eine vegetarische oder vegane Zutat ersetzt wird, wobei die sonstigen Eigenschaften des Lebensmittels weitgehend beibehalten werden. Gerade daraus entsteht die Irreführungsgefahr. Doch stellt Nr. 1.3 auch klar, dass sich neben der Zusammensetzung vegane und vegetarische Lebensmittel – je nach den typischen Eigenschaften der Ersatz- oder Basiszutat – von den in Bezug genommenen tierischen Lebensmitteln unterscheiden können. Welche Ersatzzutaten möglich sind, war in der alten Fassung nicht spezifiziert. Nunmehr listet Nr. 1.1.4 nach Art von Regelbeispielen auf, welche Stoffe sich als Ersatz- oder Basis-Zutaten eignen. Das wird in Nr. 1.4 bedeutsam: Demnach muss bei veganen und vegetarischen Lebensmitteln eindeutig auf den veganen oder vegetarischen Charakter an einer gut sichtbaren Stelle – üblicherweise im Hauptsichtfeld – deutlich und gut lesbar durch die Angabe “vegan” oder “vegetarisch” oder durch gleichbedeutende, eindeutige Informationen hingewiesen werden. Die neue Liste in Nr. 1.1.4 liefert dafür die Angaben, die u. a. auf den Lebensmitteln angebracht sein können.
Eine weitere Neuerung ist Nr. 1.4 der Leitlinien: Begriffe wie “fleischfrei” oder “pflanzenbasiert” gelten nicht als ausreichende Hinweise auf den veganen oder vegetarischen Charakter des Lebensmittels. Warum ausgerechnet “pflanzenbasiert” nicht ausreichen soll bleibt unklar. Denn die Leitlinien sollen eine Irreführungsgefahr ausschließen, welche in der Gefahr wurzelt, dass Verbraucher aufgrund der Ähnlichkeit und mangels entsprechender Kennzeichnung irrigerweise zu veganen oder vegetarischen Erzeugnissen greifen. Diese Gefahr besteht aber nicht, wenn “pflanzenbasiert” klar deklariert ist.
In der vorigen Fassung gab für die Ähnlichkeit zwischen dem fleischhaltigen Ausgangs- und dem vegetarischen oder veganen Vergleichserzeugnis die Verwendung und Zubereitung des Ausgangserzeugnisses den Ausschlag. Nr. 1.1.5 stellt nunmehr klar, dass bei der Bewertung der Ähnlichkeit auch die sensorischen Merkmale heranziehbar sind. Zugleich werden diese Merkmale bis ins Kleinste bestimmt. Je sensorisch ähnlicher das vegane oder vegetarische Lebensmittel dem in Bezug genommenen Lebensmittel tierischen Ursprungs ist, desto enger kann sich seine Bezeichnung
Am Ende zeigen die Regelungen, wie detailliert inzwischen alles im Lebensmittelrecht ausdekliniert wird. Die wenigsten Verbraucher wissen, was der Hintergrund all dieser Bestimmungen ist – sie werden sich im Supermarkt eher fragen, was die vielen an das Original angelehnten Fantasiebezeichnungen eigentlich sollen, statt einfach Begriffe wie “Sojamilch” zu verwenden. Dass dies rechtlich nicht möglich ist, wissen die wenigsten. Vor diesem Hintergrund ist der liberalere Ansatz der neuen Leitlinien zu begrüßen. Es ist jetzt möglich, ein Produkt als “veganes Steak” zu bezeichnen. Doch die grundlegende Schwierigkeit bleibt bestehen: Unionsrechtliche oder deutsche Bestimmungen zur Lebensmittelkennzeichnung haben Vorrang vor den Leitlinien. Deshalb bleiben bestimmte Bezeichnungen, auch wenn sie längst im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert sind, weiterhin unzulässig.
Die neuen Leitlinien sind daher nur ein kleiner Schritt, um mehr Klarheit zu schaffen, doch sie offenbaren zugleich die Herausforderungen, die entstehen, wenn Regulierung und Praxis aufeinanderprallen. Eines ist sicher: Die Debatte ist nicht vorbei. Und solange am Grill nicht alle einig sind, dass das Ersatzprodukt “genauso gut” schmeckt wie das Original – und “genauso gut” nur heißt, dass es den Geschmack des Originals treffen muss – wird diese Diskussion weitergehen.
Rechtsanwalt Tobias Voßberg, Berlin
1 | So die Pressemitteilung Nr. N 018 vom 2.5.2024, abrufbar unter: www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/05/PD24_N018_42.html, zuletzt abgerufen am 30.10.2024. |
2 | Vgl. zur Kritik, Jäger, LMuR 2019, 249 (252). |