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ZNER 2010, 319
Becker 

Editorial

Nach dem Bekanntwerden des „Geheimvertrages“ zwischen der Bundesregierung und den Stromkonzernen über die Verlängerung der AKW-Laufzeiten (in diesem Heft) waren sich die Journalisten einig: Die Konzerne hatten einen Sieg errungen – und der Rechtsstaat eine Niederlage. Aber die notwendigen Gesetzesänderungen bewegen sich im Hochrisikobereich, wie die Aufsätze in diesem Heft, zum Teil basierend auf Gutachten, belegen. Da ist zunächst der Aufsatz von Wieland, der aufzeigt, dass in einer Laufzeitverlängerung eine „wesentliche Veränderung der Bedeutung und Tragweite einer … Aufgabe“ der Landesatomaufsichtsbehörden liegen kann. Ein lehrreiches Beispiel ist die zweite Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz vom 04.05.2010 (in diesem Heft) des Bundesverfassungsgerichts. Bei der Verlängerung der Laufzeiten müssen die Behörden aber nicht nur die Aufsichtsaufgabe wesentlich länger wahrnehmen, sie bekommen außerdem neue Aufgaben durch neuartige Risiken. Dazu gehört beispielsweise die Aufgabe, der Gefahr durch terroristischen Flugzeugabsturz mit entsprechenden Nachrüstauflagen zu begegnen. Denn der terroristische Flugzeugabsturz gehört zum Gefahrenbereich, gegen den Vorsorge zu treffen ist, wie das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 10.4.2008 (in diesem Heft) ausgesprochen hat. Ferner erhöht sich durch Verlängerung der Laufzeiten auch die Gefahr der Versprödung der Schweißnähte im Reaktordruckbehälter etc.

Zwar liegen die verfassungsrechtlichen Fragen erst seit kurzem auf dem Tisch. Dennoch kann man angesichts der Vielzahl der vorliegenden Veröffentlichungen von einer herrschenden Auffassung sprechen, die sich mit guten Argumenten für die Bundesratspflichtigkeit einer Änderung des Atomgesetzes ausspricht. Denn wie Wieland votiert auch Papier in einem Gutachten, das er – wie auch das Wieland’sche – auf Anforderung des BMU verfasst hat, was einer gewissen Pikanterie nicht ermangelt (NVwZ 2010, 1113). Auf dieser Linie liegen auch Kendzia (DöV 2010, 713), Geulen/Klinger (NVwZ 2010, 1118) und Ewer in einem nicht veröffentlichten Gutachten. Für die Bundesratspflichtigkeit einer Laufzeitverlängerung spricht auch der Aspekt, dass die Staatshaftung der Bundesländer wesentlich erweitert wird (Art. 74 Abs. 2 GG); so Gaßner/Kendzia (erscheint im Oktober-Heft der ZuR). Der gegenteiligen Auffassung ist Moench in seinem Gutachten, das er im Auftrag der VGB PowerTech erstellt hat und das inzwischen veröffentlicht wurde (zusammen mit Ruttloff, DVBl 2010, 865); ebenso Scholz (atw – Internationale Zeitschrift für Kernenergie 2010, 316).

Angesichts dieser Frontlage kamen die Bundesministerien des Inneren und der Justiz in ihrem Gutachten zur Zustimmungsbedürftigkeit vom Juni 2010 zu der Einschätzung, dass eine zustimmungsfreie Ausgestaltung bei „moderaten“ Laufzeitverlängerungen „noch vertretbar“ sei, aber „mit einem nicht unerheblichen verfassungsrechtlichen Risiko verbunden …, über dessen Hinnahme letztlich politisch“ entschieden werden müsse. Auf ein anderes Problem weisen Waldhoff/von Aswege in ihrem Gutachten hin, das auch sie im Auftrag des BMU erstattet haben (in diesem Heft). Sie entwickeln die verschiedenen Überlegungen zur Abschöpfung der Zusatzgewinne bei den Betreibern und empfehlen letztlich vor allem die Kernbrennstoffsteuer, wie sie ja denn auch beschlossen wurde. Beleuchtet werden auch die Probleme der Zweckbindung einer Gewinnabschöpfung für die Förderung Erneuerbarer Energien, die finanzverfassungsrechtliche Probleme aufwerfe. Die Botschaft des Gutachtens knüpft an an das sich abzeichnende Verfahren, bei dem die Eckpunkte eines Konsenses in einen Vertrag, der dann – im Gewand einer Änderung des Atomgesetzes – dem Bundestag vorgelegt wird. Der Bundestag stehe vor einer „neuen Privilegienstruktur“, die den Parlamentsvorbehalt verletze: „Die Beteiligung der Betreiber am Konsens als faktischer Vorprägung eines Gesetzesvorhabens führt zu einem Einfluss auf die Staatsgewalt, der mit dem egalitär ausgestalteten Demokratieprinzip kaum vereinbar ist“.

Mit einer weiteren verfassungsrechtlichen Kampffront befassen sich Däuper/Ringwald/Hilmes (in diesem Heft). Sie diagnostizieren einen Wettbewerbsvorteil, den die Konzerne dem Gesetzgeber verdanken (und den der VKU bereits anprangert). Es werde eine „missbrauchsgeneigte Lage“ durch eine Laufzeitverlängerung geschaffen, wie sie der EuGH in seinem Urteil „Hafen von Genua“ beanstandet hatte. Den Mitgliedstaat treffe eine Aufsichtspflicht. Sie müsse genutzt werden, um die oligopolistische Struktur auf dem Erzeugermarkt nicht zu fördern, sondern ihr im Gegenteil entgegenzuwirken. Die Verlängerung der Laufzeiten wäre danach nicht nur verfassungswidrig, sondern würde auch den europarechtlichen Wettbewerbsvorschriften widersprechen.

Da das Land Rheinland-Pfalz zu einer Organklage entschlossen sein soll, wird das Bundesverfassungsgericht die Rechtslage klären müssen.

Eine Organklage gehört wohl vor den Zweiten Senat. Beim Ersten Senat läge der Prozess eines Drittbetroffenen gegen ein Bundesland, etwa Hessen, wo die Reaktoren Biblis A und B ohne Neuregelung schon im Jahr 2011 zur Abschaltung anstehen. Beide Reaktoren sind nicht ausreichend gegen Flugzeugabsturz gesichert. Deswegen könnte durchaus auch ein Nachbar klagen, dessen Leben und Gesundheit durch terroristischen Flugzeugabsturz, durch die Versprödung von Schweißnähten etc. entscheidend intensiver bedroht wird. Den Aufsichtsbehörden ist bereits seit 2002 bekannt, dass zumindest die Hälfte aller Reaktoren nicht gegen terroristischen Flugzeugabsturz gesichert ist. Damals, wesentlich bestimmt durch den Atomkonsens, wurde mit Verhältnismäßigkeitserwägungen argumentiert: Mit Blick auf die in Kürze heranstehende Abschaltung könne von einer Auflage abgesehen werden, die Anlage gegen terroristischen Flugzeugabsturz zu sichern. Hier könnte der Grund liegen, warum das BMJ ursprünglich nur zu einer Verlängerung der Laufzeiten um etwa 2 Jahre bereit war. Wie sich aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. April 2008 (in diesem Heft) ergibt, wäre auch ein Nachbar klagebefugt. Und er könnte den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stellen, bei dessen Ablehnung direkt das Bundesverfassungsgericht angesteuert werden könnte.

Aber es gibt nicht nur die Frage, ob AKWs länger laufen dürfen, es gibt auch die Frage, ob sie länger laufen können. In der jungen Vergangenheit gab es schon mehrfach das Problem, dass zuviel Strom ins Netz drängte, was bei der EEX zu negativen Strompreisen führte: Stromkäufer bekamen noch Geld dazu, wenn sie Strom abnahmen. Dabei beträgt der Anteil an der gesamten Produktion, der aus Erneuerbaren Quellen stammt, derzeit nur 16 %. Im Jahr 2020 wird mit 35 % gerechnet, so auch das Energiekonzept der Bundesregierung. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) beim Bundesumweltministerium kommt in seinem Gutachten „Hundert Prozent Erneuerbare Stromversorgung bis 2020: kli¬ZNER 2010 S. 319 (320)maverträglich, sicher, bezahlbar“ zu dem Ergebnis, dass es im Jahr 2020 die bisherige Grundlast gar nicht mehr gibt. Das bedeutet, dass der Strom aus Erneuerbaren Energien den aus Kernkraft und Braunkohle immer wieder verdrängt. Zwar muss der Netzbetreiber im Fall der Einspeisungskonkurrenz entscheiden, welcher Einspeisung er den Vorzug gibt. Müssen Windkraftanlagen weggeregelt werden, löst das allerdings einen Entschädigungsanspruch aus (§ 13 EEG). Die Rechtslage lässt allerdings eine Diskriminierung Erneuerbaren Stroms nicht zu. Das liegt am Einspeisevorrang (§ 8 EEG), der auch europarechtlich abgesichert ist. Mit den hier entstandenen Fragen befassen sich Altrock/Hermann (in diesem Heft). Sie diskutieren die durch die Einspeisekonkurrenz entstandenen Problemlagen und empfehlen Anreizregelungen für die technologische Entwicklung und den Einsatz von Speichertechnologie wie durch einen Kombi-Kraftwerks-Bonus oder eine Anreizregelung für bedarfsgerechte Einspeisung.

Eine bisher kaum öffentlich diskutierte Frage beleuchtet Scheer in seinem Kurzen Beitrag: Anlässlich des Atomkonsenses I wurden den Konzernen als Gegenleistung für den Ausstieg erhebliche monetäre Vorteile zugewendet, so der Verzicht auf eine Brennstabsteuer, der Verzicht auf eine Haftpflichtversicherung für jeden einzelnen Reaktor und der Verzicht auf die Überführung der Entsorgungsrückstellungen in einen Fonds. Diese Vorteile haben sie erhalten, aber an ihrer Leistung des Ausstiegs wollen sie nicht mehr festhalten. Welche Rechtsfolgen hat das?

Eine Gesamtschau auf die verfassungsrechtlichen Risiken der Laufzeitverlängerung, die keineswegs an den Haaren herbeigezogen sind, führt zwangsläufig zu einer Frage, die der Chronist an die Adresse der Bundesregierung richten müsste. Was reitet sie, Vereinbarungen aus einem Koalitionsvertrag von Parteien dermaßen risikobehaftet zum Gesetz zu erheben? Politisch vereinbaren kann man viel. Aber darf ein Verfassungsorgan wie die Bundesregierung sich an einem verfassungsrechtlichen Vabanque-Spiel beteiligen? Soll die Laufzeitverlängerung vielleicht sogar eine „Sollbruchstelle“ werden? Eine solche Vermutung kann freilich nur ein äußerst wohlmeinender Interpret des Energiekonzeptes hegen, das die Bundesregierung am 6. September vorgestellt hat. Die ZNER wird sich in ihrer nächsten Nummer damit beschäftigen.

Peter Becker

 
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