Compliance als wichtigste Verteidigungsrichtlinie
Im Interview mit Prof. Dr. Matthias Jahn, Richter am Oberlandesgericht Frankfurt, werfen wir einen Blick auf Compliance und Strafverfahren. Compliance ist aus seiner Sicht die „wichtigste Verteidigungsrichtlinie“. Doch in welcher Beziehung steht zum Beispiel die richtige Verteidigung bei Vorwürfen gegen Unternehmen bzw. gegen die dort Verantwortlichen mit dem Kampf um die Reputation des Unternehmens? Und ist ein Unternehmensstrafrecht für Deutschland das, worauf sich Compliance-Verantwortliche künftig einstellen müssen?
Frühes Schuldeingeständnis: Diese Flucht nach vorn sollte nicht wagen, wer zu nah am Abgrund steht.
Compliance: „Compliance als wichtigste Verteidigungsrichtlinie“: Was dürfen wir uns darunter vorstellen?
Jahn: Das erfährt man hautnah, wenn man die Linie übertritt. Der Bundesgerichtshof sagt in seinem berühmten „Panzerhaubitzen“-Obiter aus dem Jahr 2017, für die Bemessung von Geldbußen sei auch von Bedeutung, inwieweit das Unternehmen seiner Pflicht, Rechtsverletzungen aus seiner Sphäre zu unterbinden, genügt habe und ein effizientes Compliance-Management installiert habe. Das ist die rechtliche Ebene. Mein Vortrag, den ich dazu bei der Deutschen Compliance Konferenz 2025 halten werde, geht eins tiefer: Was heißt es für den Verantwortlichen im Unternehmen persönlich, sei er CEO oder Chief Compliance Officer, wenn dennoch alle roten Flaggen ignoriert und Linien überschritten wurden – oder sich das jedenfalls im Augenblick so darstellt, ungeachtet der treuherzigen Versicherung, es gelte die Unschuldsvermutung. Dann greifen Mechanismen öffentlicher Empörungsdynamik, aus Gerüchten werden Gewissheiten, aus Verdachtsmomenten Vor-Urteile und im Auge des Orkans steht der Betroffene oder Beschuldigte als Objekt der Berichterstattung. Jetzt entsteht „Ein Bild von einem Strafverfahren“ – so ist der Vortrag betitelt. Im Grunde geht es um die Wirklichkeitsebene des alten Satzes aus der Feder eines US-Strafverfolgers: „If you think compliance is expensive, try non-compliance.“
Compliance: Sie sprachen es gerade an: Unternehmen sind bei Compliance-Skandalen ja auch mit heftigen Reputationsrisiken konfrontiert. PR-Unternehmen raten nicht selten zur „Flucht nach vorn“ und zum Eingeständnis von Fehlern. Wirkt sich das aus Ihrer Sicht auf die „Intensität“ der (späteren) Verteidigung aus?
Jahn: Das kann man wohl nur mit einem weiteren, diesmal britischen Klassiker beantworten: „The readiness is all.“ Bereitsein ist alles. Zu früh und zu beherzt kann ebenso schädlich sein wie zu spät und zu zögerlich – deshalb Hamlet. Im politisch 2021 in letzter Sekunde gescheiterten Regierungsentwurf zu einem Verbandssanktionengesetz war die Regelung vorgesehen, dass für die Bemessung der Sanktion „das Bemühen des Verbandes, die Verbandstat aufzudecken und den Schaden wiedergutzumachen“, ein wichtiger Faktor sein solle. Das macht das Dilemma deutlich: Wenn der Verband im ersten Morgengrauen eines Verdachts noch gar nicht weiß, ob es eine Verbandstat gibt und wie sie sich im Einzelnen darstellt, kann eine Flucht nach vorne eine selbstmörderische Strategie sein, die spätere Verteidigung möglich, aber sinnlos werden lässt.
Compliance: Da es in Deutschland bisher aber eben noch kein Unternehmensstrafrecht gibt, steht die persönliche Verantwortung von Führungspersonen im Vordergrund. Ist das aus Ihrer Sicht die richtige Herangehensweise oder sollte die neue Bundesregierung wieder den Faden der Gesetzgebung für ein Unternehmensstrafrecht aufnehmen?
Jahn: Der Faden muss weitergesponnen werden. Die Einführung eines echten Unternehmensstrafrechts in Deutschland steht seit sieben Jahrzehnten fast durchgehend auf der Tagesordnung der Rechtspolitik. Das im Wesentlichen einzige strafrechtsnahe Steuerungsinstrument gegenüber Unternehmen findet sich im Ordnungswidrigkeitenrecht: Die eingangs erwähnte Geldbuße nach Paragraph 30 des Ordnungswidrigkeitengesetzes. Die Norm ist seit mehr als einem halben Jahrhundert in der Praxis als selbstständige Unternehmenssanktion ebenso etabliert wie inhaltlich umstritten. Bis heute übernimmt sie faktisch die Funktion der Unternehmensstrafe. Leisten muss sie das mittels eines überschaubaren Bußgeldrahmens, flankiert von einem defizitären Verfahrensrecht, in dem eine Verteidigung im Rechtssinne für das Unternehmen kaum möglich ist. Die Einordnung in eine Sanktions- und Verfahrensspur, die typischerweise Bagatellunrecht wie den alltäglichen Straßenverkehrsverstoß zum Gegenstand hat, ist aus der Zeit gefallen.
Das Interview führte Christina Kahlen-Pappas.
Einen ausführlichen Vortrag von Prof. Dr. Matthias Jahn zum „Bild von einem Strafverfahren“ können Sie bei der Deutschen Compliance-Konferenz am 13. und 14. Mai 2025 in Frankfurt am Main erleben.
Prof. Dr. Matthias Jahn ist seit 2010 Leiter der Forschungsstelle Recht und Praxis der Strafverteidigung, seit 2013 Direktor des Instituts für das Gesamte Wirtschaftsstrafrecht der Goethe-Universität, seit 2005 im zweiten Hauptamt Richter, zunächst am OLG Nürnberg, seit 2014 am OLG Frankfurt.