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EWS 1993, 220
 
BVerwG
Rücknahme einer gemeinschaftsrechtswidrigen Investitionszulagebescheinigung

BVerwG, Entscheidung vom 17. Februar 1993 - BVerwG 11 C 47.92;

BVerwG vom 17.02.1993 - BVerwG 11 C 47.92
EWS 1993, 220 (Heft 7)
Aus den Gründen»Das Berufungsgericht sieht die Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid, mit dem die Beklagte die der Klägerin erteilte Investitionszulagebescheinigung (§ 2 des Investitionszulagengesetzes 1982, BGBl. I S. 647 - InvZulG -) wegen Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht zurückgenommen hat, zutreffend in § 48 VwVfG, denn die Rücknahme gemeinschaftsrechtswidriger Verwaltungsakte ist wegen Fehlens einer umfassenden gemeinschaftsrechtlichen Rücknahmeregelung im Grundsatz nach nationalem Recht zu beurteilen (vgl. BVerwGE 74, 357 [360]; EuGH, Urteil vom 20. September 1990, EuGHE 1990, 3453 = NVwZ 91990, 1161 Rdnr. 12). § 2 Abs. 4 InvZulG scheidet als Rechtsgrundlage aus, weil der angefochtene Rücknahmebescheid nicht auf die besonderen Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift gestützt ist. Wie sich aus § 48 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 1 VwVfG ergibt, darf ein Verwaltungsakt, der wie die Investitionszulagebescheinigung Voraussetzung für eine Geldleistung ist, im Falle seiner Rechtswidrigkeit unter den Einschränkungen der Absätze 2 und 4 zurückgenommen werden. Das Berufungsgericht hat diese Voraussetzungen zu Recht als erfüllt angesehen.1. Die der Klägerin erteilte Investitionszulagebescheinigung ist rechtswidrig. Dies folgt daraus, daß in der an die Beklagte gerichteten Kommissionsentscheidung vom 10. Juli 1985 die Unvereinbarkeit der staatlichen Beihilfe - und damit zugleich der ihr zugrunde-liegenden Investitionszulagebescheinigung - mit dem EWG-Vertrag festgestellt und daß die von der Klägerin hiergegen erhobene Klage durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 24. Februar 1987 (EuGHE 1987, 921 = NJW 1987, 3072) als unbegründet abgewiesen worden ist. Die Feststellung der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit ist daher gemäß Art. 189 Satz 4 EWGV sowohl für die Klägerin als auch für die Beklagte bindend.2. Nach § 48 Abs. 2 Satz 1 VwVfG darf ein solcher rechtswidriger Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob die zuerst genannte Voraussetzung gegeben ist, die Klägerin also auf den Bestand der Bescheinigung vertraut hat. Wie das angefochtene Urteil ohne Verletzung von Bundesrecht ausführt, ist die Rücknahme der Investitionszulagebescheinigung jedenfalls deswegen gerechtfertigt, weil ein etwaiges Vertrauen der Klägerin unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme nicht schutzwürdig ist.Das Vertrauen ist nach § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG 'in der Regel' schutzwürdig, wenn der Begünstigte gewährte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Das Berufungsurteil stellt hierzu fest, die Klägerin habe die ihr aufgrund der Bescheinigung zugeflossenen Mittel bereits verwendet; es geht deshalb davon aus, daß einer der Fälle des 'irreversiblen Verbrauchs' vorliege, in denen das Interesse am Schutz des Vertrauens auf den begünstigenden Verwaltungsakt 'in der Regel' Vorrang vor dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme verdiene. Mit Recht jedoch hält das Berufungsgericht im vorliegenden Fall eine von der Regel des § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG abweichende Gewichtung der Interessen für geboten.Dem steht nicht entgegen, daß hier keiner der drei Tatbestände des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 1 bis 3 VwVfG erfüllt ist. Nach dieser Vorschrift kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, wenn er in einem dort näher bestimmten Sinne bösgläubig war, insbesondere die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (Nr. 3). Das bereits erwähnte Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 24. Februar 1987 (a. a. O.) enthält keine Aussage des Inhalts, daß der Klägerin Bösgläubigkeit in diesem Sinne vorzuwerfen sei (vgl. dazu Fischer, DVBl. 1990, 1089 [1090]; a. A. Fastenrath, JZ 1992, 1082 [1084]). Ebensowenig sind im Berufungsurteil Tatsachen festgestellt, die den Schluß erlauben würden, die Klägerin habe gewußt, daß die vom Bundesministerium für Wirtschaft ausgestellte Investitionszulagebescheinigung gegen Gemeinschaftsrecht verstoße, oder sie habe dies infolge grober Fahrlässigkeit nicht gewußt. Grobe Fahrlässigkeit ist nur gegeben, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (so die Definition in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X; vgl. auch Kopp, VwVfG, 5. Aufl. 1991, § 48 Rdnr. 73). Der bloße Umstand, daß die Klägerin nach Beantragung der Investitionszulagebescheinigung im Jahr 1982 nicht nachgeforscht hat, ob das für die Entscheidung zuständige Bundesministerium ein etwa gebotenes Überwachungsverfahren gemäß Art. 93 Abs. 3 EWGV ordnungsgemäß durchgeführt hat, reicht für die Annahme eines besonders schweren Verstoßes gegen die Sorgfaltspflicht nicht aus (vgl. Triantafyllou, NVwZ 1992, 436 [439]; a. A. Fastenrath a. a. O. S. 1084). Das gilt um so mehr, als die Klägerin die Investitionszulagebescheinigung schon im Januar 1983 und somit vor der Veröffentlichung der Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 24. November 1983 (ABl. C 318 S. 3) erhalten hatte; darin wurden 'die potentiellen Empfänger staatlicher Beihilfen' erstmals darauf aufmerksam gemacht, daß sie bei Nichtdurchführung des Überwachungsverfahrens mit einer Rückforderung der Beihilfe rechnen müßten (vgl. dazu Fischer a. a. O. S. 1092).Daß der Klägerin somit keine Bösgläubigkeit im Sinne des § 48 Abs. 2 Satz 3 VwVfG zur Last gelegt werden kann, bedeutet nicht, daß es bei der Regel des § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG, also bei einer Schutzwürdigkeit ihres etwaigen Vertrauens auf den Bestand der Investitionszulagebescheinigung, bleiben müßte. § 48 Abs. 2 Satz 3 VwVfG besagt nämlich nicht, daß die drei Fälle, in denen Vertrauensschutz selbst bei Vorliegen einer Vermögensdisposition im Sinne des § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG ausscheidet, die einzigen Ausnahmen von jener Regel sind. Dies wird durch die Begründung des Regierungsentwurfs eines Verwaltungsverfahrensgesetzes bestätigt. Dort heißt es, Satz 3 enthalte nur Beispiele; es gebe auch andere Fälle, in denen sich der Betroffene nicht auf Vertrauen berufen könne (BT-Drucks. 7/910 S. 70 [Begründung zu § 44 Abs. 2 des Entwurfs = § 48 Abs. 2 VwVfG]; ebenso Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, 3. Aufl. 1990, § 48 Rdnr. 105). § 48 Abs. 2 VwVfG schließt also nicht aus, daß sich bei der nach Satz 1 gebotenen Abwägung das subjektive Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsakts als gegenüber dem öffentlichen Rücknahmeinteresse minder gewichtig und damit nicht schutzwürdig erweist, obwohl der Begünstigte eine irreversible Vermögensdisposition getroffen hat und nicht bösgläubig im Sinne des Satzes 3 war. So verhält es sich hier.Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs muß das nationale Recht so angewandt werden, daß die gemeinschaftsrechtlich vorgeschriebene Rückforderung staatlicher Beihilfen nicht praktisch unmöglich und das Gemeinschaftsinteresse voll berücksichtigt wird (vgl. z. B. Urteil vom 20. September 1990 a. a. O. Rdnr. 19). Diesem Gebot würde nicht hinreichend Rechnung getragen, wenn bei gemeinschaftsrechtswidrigen staatlichen Beihilfen, über die der Begünstigte bereits gemäß § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG disponiert hat, das öffentliche Rücknahmeinteresse nur in den Fällen der Bösgläubigkeit im Sinne des § 48 Abs. 2 Satz 3 VwVfG durchgesetzt würde. Da Bösgläubigkeit dieses Grades vielfach - wie auch im vorliegenden Fall - nicht nachweisbar sein wird, hätte die Anwendung der in § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG normierten Regel zur Folge, daß die gemeinschaftsrechtlich gebotene Rückforderung in weitem Umfang unmöglich wäre. Dadurch würde das Gemeinschaftsinteresse an der Wahrung der im EWG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsordnung, namentlich das Gemeinschaftsinteresse daran, daß die Mitgliedstaaten ihre oft vernachlässigte Notifizierungspflicht gemäß Art. 93 Abs. 3 EWGV erfüllen (vgl. dazu Magiera in: Festschrift für Börner, 1992, S. 213 [218 f.]; Bleckmann, JZ 1992, 46), erheblich beeinträchtigt.Deshalb kommt dem öffentlichen Rücknahmeinteresse in Fällen der vorliegenden Art grundsätzlich ein größeres Gewicht zu als bei der Rücknahme von Geldleistungsverwaltungsakten, die nur gegen nationales Recht verstoßen. Im zuletzt genannten Fall dient die Rücknahme dem fiskalischen Interesse sowie dem Interesse an der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, in Fällen der vorliegenden Art darüber hinaus der Durchsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsordnung. Diesem durch die Einwirkung des Gemeinschaftsrechts gesteigerten öffentlichen Rücknahmeinteresse gebührt bei der Abwägung im Rahmen des § 48 Abs. 2 Satz 1 VwVfG auch dann Vorrang vor dem gegenteiligen Interesse des Begünstigten, wenn dieses nicht wegen Bösgläubigkeit im Sinne des § 48 Abs. 2 Satz 3 VwVfG von vornherein schutzunwürdig ist. Das Vertrauensschutzinteresse des Begünstigten tritt angesichts des besonderen Gewichts des Rücknahmeinteresses grundsätzlich schon dann zurück, wenn die staatliche Beihilfe wie hier ohne Beachtung des in Art. 93 EWGV zwingend vorgeschriebenen Überwachungsverfahrens, also ohne die Kontrolle der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, gewährt wurde. Damit ist nicht etwa jeglicher Vertrauensschutz preisgegeben. Denn eine sichere Grundlage für ein Vertrauen auf die materielle Rechtmäßigkeit der Beihilfe besteht nur, wenn das Überwachungsverfahren als Voraussetzung der Ordnungsmäßigkeit der Beihilfe eingehalten worden ist. Einem sorgfältigen Wirtschaftsunternehmen ist es aber - wie das Berufungsgericht (UA S. 14) im Anschluß an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 20. September 1990 a. a. O. Rdnr. 14) sinngemäß feststellt - regelmäßig möglich, sich zu vergewissern, ob diese Voraussetzung erfüllt ist.Ist das vorgeschriebene Überwachungsverfahren wie hier nicht durchgeführt worden, so ist das Vertrauen des Beihilfeempfängers nur ausnahmsweise schutzwürdig, wenn dafür besondere Umstände sprechen (vgl. EuGH, Urteil vom 20. September 1990 a. a. O. Rdnr. 16). Solche außergewöhnlichen Umstände sind für den vorliegenden Fall im Berufungsurteil nicht festgestellt und im Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 24. Februar 1987 (a. a. O. Rdnr. 20-25) sinngemäß verneint worden. Insbesondere wird darin betont, die Investitionszulage sei 'unzweifelhaft' eine Beihilfe im Sinne von Art. 92 Abs. 1 EWGV gewesen, die nach Art. 93 Abs. 3 EWGV hätte notifiziert werden müssen. Wird zudem berücksichtigt, daß die Klägerin ein international verflochtenes Unternehmen ist, das nach eigenen Angaben schon zur Zeit der Beantragung der Inve-stitionszulagebescheinigung einen großen Teil seines Umsatzes europaweit erzielte, so muß gemäß der Regel davon ausgegangen werden, daß es der Klägerin möglich war, die gemeinschaftsrechtliche Bedenklichkeit der Investitionszulage zu erkennen.3. Stehen demnach Gründe des Vertrauensschutzes im Sinne des § 48 Abs. 2 VwVfG der Rücknahme der Investitionszulagebescheinigung nicht entgegen, so hatte die Beklagte, wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt, keine Ermessensfreiheit, von der Rücknahme abzusehen. Zwar liegt die Rücknahmeentscheidung gemäß § 48 Abs. 1 VwVfG bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen grundsätzlich im Ermessen der Behörde. Hier jedoch war die Beklagte aufgrund der - mit Ergehen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 24. Februar 1987 (a. a. O.) bestandskräftig gewordenen - Entscheidung der Kommission vom 10. Juli 1985 verpflichtet, eine nach nationalem Recht zulässige Rücknahme der gemeinschaftsrechtswidrigen Bescheinigung auch tatsächlich vorzunehmen.4. Zu Recht hat das Berufungsgericht schließlich entschieden, daß der angefochtene Rücknahmebescheid vom 27. März 1986 nicht gegen § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG verstößt. Nach dieser Vorschrift darf ein rechtswidriger Verwaltungsakt nur innerhalb eines Jahres zurückgenommen werden, seitdem die Behörde von Tatsachen Kenntnis erhalten hat, die die Rücknahme rechtfertigen. Diese Frist ist hier gewahrt. Sie beginnt, sobald die Rücknahmebehörde die Rechtswidrigkeit des erlassenen Verwaltungsakts erkannt hat und ihr die für die Rücknahmeentscheidung außerdem erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind. Dazu gehören die Umstände, deren Kenntnis es der Behörde objektiv ermöglicht, ohne weitere Sachaufklärung unter sachgerechter Anwendung ihres Ermessens über die Rücknahme zu entscheiden (BVerwGE 70, 356). Danach begann der Lauf der Jahresfrist hier frühestens im Zeitpunkt der Zustellung der Kommissionsentscheidung vom 10. Juni 1985 an die Beklagte. Denn erst diese Entscheidung stellte klar, daß die Investitionszulage nicht nur formell, sondern auch materiell gemeinschaftsrechtswidrig war und daß der Beklagten keine Ermessensfreiheit zustand, von einer Rücknahme abzusehen.«

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