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SRNL 2024, 6
Voitzsch 

Neues vom EuGH – Beginn des Zeitpunktes der Konsultationspflicht bei Massenentlassungen

Sebastian Voitzsch, Münster

Abbildung 5

Wie früh ist frühzeitig?

Der EuGH hat in den letzten Jahren mit zahlreichen Entscheidungen erheblichen Einfluss auf das nationale Arbeitsrecht genommen. In diese Serie reiht sich auch das Urteil vom 22. Februar 2024, Az. C-589/22 (ZIP 2024, 1321) ein, in welchem sich der EuGH mit der Frage befasst hat, zu welchem Zeitpunkt der Arbeitgeber verpflichtet ist, das Konsultationsverfahren im Vorfeld von Massenentlassungen (§ 17 Abs. II KSchG) einzuleiten. Im Verfahren des EuGH hatte eine Hotelkette, die im Sommer 2019 noch 20 Hotels betrieb, im Rahmen einer Sanierung zunächst bis Dezember 13 Häuser an andere Betreibergesellschaften abgegeben. Zu Beginn der Restrukturierung beschäftigte die Beklagte an ihrem Sitz, an dem sie zentrale Verwaltungsdienste für die Hotels betrieb, 43 Mitarbeiter.

Nachdem die Beklagte zum Ende des Jahres 2019 die verbliebenen Hotels auf eine andere Gesellschaft übertragen und im Vorfeld dieser Übertragung ihren Mitarbeitern angeboten hatte, zur Erwerbergesellschaft zu gehen, da diese im Zuge der Erweiterung ihre zentralen Dienste aufstocken musste, wechselten neun Mitarbeiter zu dieser Gesellschaft, zwei weitere kündigten ihr Anstellungsverhältnis mit der Beklagten selbst, sodass die Zahl der Beschäftigten am Sitz der Beklagten Ende Januar 2020 auf 32 Mitarbeiter gesunken war.

Nunmehr sprach die Beklagte neun Kündigungen aus und führte kein Massenentlassungsanzeigeverfahren durch mit der Begründung, die Zahl der zu entlassenden Mitarbeiter liege unterhalb der gesetzlich normierten Schwelle (hier: 10 Mitarbeiter). Die dagegen gerichteten Kündigungsschutzklagen wurden abgewiesen, im Rechtsmittelverfahren wurde dem EuGH die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ab welchem Zeitpunkt die Konsultationspflicht beginnt: Führt erst die konkrete, im Januar 2020 getroffene Entscheidung, Kündigungen auszusprechen, zur Konsultationspflicht? Oder entsteht diese bereits, wenn das Unternehmen mit einer Reorganisation beginnt, die zwar zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Mitarbeiter hat, mittel- und langfristig aber zu einem verringerten Bedarf an Mitarbeitern führt?

Der EuGH hat sich für einen frühen Beginn der Konsultationspflicht ausgesprochen und argumentiert mit dem Sinn und Zweck der Richtlinie, der sich in Art. 2 Abs. II der RL 89/59 wiederspiegelt. Dieser lautet:

„Diese Konsultationen erstrecken sich zumindest auf die Möglichkeit, Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken, sowie auf die Möglichkeit, ihre Folgen durch soziale Be¬SRNL 2024 S. 6 (7)gleitmaßnahmen, die insbesondere Hilfen für eine anderweitige Verwendung oder Umschulung der entlassenen Arbeitnehmer zum Ziel haben, zu mildern.“

Auch nach dem deutschen § 17 Abs. II S. 2 KSchG müssen „Arbeitgeber und Betriebsrat (…) insbesondere die Möglichkeiten (…) beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern.“

Wenn es aber Sinn und Zweck der Konsultationen sein soll, Massenentlassungen nach Möglichkeit zu vermeiden, dann kann es – so der EuGH – nicht sein, dass der Arbeitgeber zunächst sein Unternehmen umstrukturiert und eine Änderung des Beschäftigungsvolumens herbeiführt, um dann die Mitarbeitervertretung vor vollendete Tatsachen zu stellen und nur noch darauf hinzuweisen, dass eine gewisse Zahl an Mitarbeitern nicht mehr beschäftigt werden könne. Wirkliche Beratungen über mögliche Optionen seien nur möglich, solange die Entscheidung des Arbeitgebers noch nicht feststehe.

Die Entscheidung des EuGH kann man in einem Satz wohl so zusammenfassen: Die Beteiligungsrechte der Mitarbeitervertretungen sind ernst zu nehmen! Gerade bei Restrukturierungen, die zielgerichtet darauf hinauslaufen, den Umfang der betrieblichen Tätigkeit zu verringern, sind die Mitarbeiter frühzeitig, und zwar schon bei der Konzeption, zu beteiligen. Nur so ist es möglich, Alternativen zu diskutieren und zu überlegen, ob die Entlassung von Mitarbeitern vermieden oder begrenzt werden kann. Legt man den Beginn der Konsultationspflicht; auf den Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber bereits eine Entscheidung getroffen hat und jetzt konkrete Personalmaßnahmen anstehen, dann kommt sie für wirkliche Beratungen über das Ausmaß der Veränderungen schlicht zu spät.

Maßgeblich ist dabei, wie konkret die Planungen des Arbeitgebers sind. Das BAG hat schon 2006 darauf hingewiesen, dass auch ein in mehrere Abschnitte aufgeteilter Personalabbau die Mitbestimmungsrechte gem. § 111 BetrVG auslösen kann; dies gilt dann, wenn die einzelnen Abschnitte auf Grundlage einer einheitlichen Planung erfolgen (BAG NZA 2006, 932). Der EuGH macht nun erneut klar, dass bei Restrukturierungsmaßnahmen schon zu Beginn die Frage aufgeworfen werden muss, welche Auswirkungen die Neuaufstellung auf die Mitarbeiter – auch mittelbar – hat. Ist absehbar, dass die geplanten Änderungen in der Struktur das Arbeitsaufkommen entscheidend verändern, sind die Mitarbeitervertreter frühzeitig zu beteiligen.

Das macht aber auch deutlich, dass ein so früher Beginn der Konsultationspflicht dem Betriebsrat eine erhebliche Verantwortung auferlegt: Wenn frühzeitig und noch ohne konkreten Plan – es müssen ja Alternativen diskutiert werden können – Informationen an die Belegschaft geraten, kann das erhebliche Unsicherheiten und damit „Fluchttendenzen“ auslösen, welche für eine Sanierung erheblichen Schaden bringen können. Unruhe in der Belegschaft und möglicherweise auch bei Kunden, weil über die allgegenwärtigen Sozialen Medien nichts verborgen bleibt, können eine Sanierung zunichtemachen, noch bevor sie begonnen hat. Soll der Arbeitgeber die Konsultationspflicht ernst nehmen und frühzeitig beginnen lassen, dann geht das nur, wenn die Gespräche mit den Mitarbeitervertretern im wahrsten Sinne des Wortes vertraulich geführt werden können und der Betriebsrat nicht meint, aufgrund falsch verstandener Loyalität gegenüber der Belegschaft Gedankenspiele und alle möglichen Alternativen in die Welt tragen zu müssen. Im Sinne der Belegschaft müssen die Akteure hier miteinander zusammenarbeiten und nicht gegeneinander wettern.

Abbildung 6

Sebastian Voitzsch ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht. Nach zweijähriger Tätigkeit in einer ehemaligen OLG-Kanzlei, die seine vorhandene Vorliebe für alle Bereiche der Prozessführung weiter verstärkt hat, gehört er seit 2009 zum Team der MÖNIG Wirtschaftskanzlei. Hier vertritt er die Bereiche (Insolvenz-)Arbeits- und Prozessrecht. Da der beste Prozess, der ist, der nicht geführt werden muss, berät und vertritt er Mandanten auch ohne bzw. zur Vermeidung gerichtlicher Auseinandersetzungen.

 
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